Litauens Hauptstadt Vilnius – da ist Musik drin

Der 23. August ist für Litauen und das Baltikum ein besonderer Tag. 1989 bildeten Millionen Menschen den Baltischen Weg – eine Menschenkette über eine Länge von 600 Kilometern von Tallinn über Riga bis nach Vilnius für die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion als Teil der „Singenden Revolution“. Aber auch heute noch ist Musik an jeder Ecke von Litauens charmanter Hauptstadt Vilnius.
Titelbild
Schlendern und Singen: Altstadt von VilniusFoto: Istock RossHelen
Von 27. August 2023

Dieser Sommer ist für Vilnius ein ganz besonderer. Denn die Hauptstadt Litauens feiert ihr 700-jähriges Bestehen, 1323 wurde „Wilna“ erstmals in einem Schreiben des Großfürsten Gediminas von Litauen urkundlich erwähnt.

Aber die Geschichte der nordeuropäischen Stadt ist noch viel älter. Bereits in der Steinzeit ließen sich Menschen an der Stelle nieder, an der der kleine Fluss Vilnia in die Neris mündet. Daher hat die Stadt ihren Namen, er bedeutet „Welle“ oder „kleine Welle“.

Über Jahrhunderte hinweg allen Besetzern getrotzt

Immer wieder gingen Wellen von Besatzungen über Litauen und Vilnius hinweg, vom 18. Jahrhundert an war die Stadt mal russisch, mal schwedisch besetzt, zwischen den Weltkriegen gehörte sie zu Polen, bis die Deutschen einmarschierten. Im „Jerusalem des Nordens“– seinerzeit war nahezu jeder zweite Einwohner der Stadt jüdischen Glaubens– wurden fast alle Juden ermordet, sie wurden vielfach nicht deportiert, sondern gleich an Ort und Stelle erschossen.

Als sowjetische Provinzhauptstadt wurde Vilnius in den Jahren nach der deutschen Besatzung fast komplett neu besiedelt. „Über all die Besetzungen und Jahrhunderte hat sich Litauen seine eigene Kultur bewahrt, allen Versuchen, die Kultur zu zerstören, widerstanden“, erzählt stolz Sopranistin Aukse Marija Petroni.

Litauische Lebensart in der Barockstadt

Als eine der ältesten Barockstädte Europas hat Vilnius als Ganzes von der UNESCO den Titel „Weltkulturerbe“ erhalten. Von jeder Stelle in Vilnius aus sieht man hier mindestens vier Kirchtürme über den roten Dächern der meist nur zwei Etagen hohen Barockhäuser – über fünfzig Kirchen hat die baltische Stadt. „Rom des Ostens“ ist gleich das nächste Attribut, was Vilnius gegeben wird.

Besucher und Einheimische, die in einem der zahlreichen Straßencafés einkehren, bestellen hier traditionell „Duona“, das ist der litauische Lieblingssnack und bezeichnet Streifen von in heißer Glut gebackenem schwarzen Roggenbrot, mit Knoblauch getoastet und mit einem raffinierten Käsedip serviert. Dazu wird ein „Keptinis“-Bier serviert. „Keptinis“ ist litauisch und bedeutet so viel wie „gebacken“, weil eine Zutat davon, das Malz, bei der Herstellung in den Ofen kommt. So schmeckt und duftet das „flüssige Superfood“ genannte Bier sogar ein wenig nach frisch gebackenem Brot.

 

Überall Musik und alles im Fluss: Sopranistin Aukse Petroni am Klavier am Ufer der Vilnia. Fot: privat

Eine Wohltat für die Augen sind die kleinen Gassen der Altstadt mit ihren vielfach mit Blumen geschmückten Barockfassaden. Überall aus den Fenstern hängt hier die gelb-grün-rote litauische Flagge. Neuerdings auch abwechselnd mit den ukrainischen Farben, die ebenso an Taxis zu finden sind oder als blaugelbe Leuchtdisplays an den alten Oberleitungsbussen. Sie sind ein optisches Relikt aus sozialistischen Zeiten, die einen für 1,50 Euro durch die ganze Stadt kutschieren.

„Wir wünschen Russland Demut.“

Bei Sängerin Aukse nachgefragt, sagt die hochgewachsene Musikerin: „Viele, wenn nicht gar alle hier in Litauen finden, dass Russland jetzt gerne etwas Demut lernen dürfe. Wir wünschen Russland Demut.“ Das habe vor allem auch mit der eigenen Geschichte zu tun. Das beflaggte Bekenntnis zur Ukraine sei hier insbesondere auch als ein Statement gegen die ehemaligen Usurpanten, die Russen, zu sehen.

Die Baltischen Staaten wurden 1939 sowjetisch annektiert, die Litauer litten unter Besatzung und stalinistischen Deportationen. Mitte 1941 begannen Razzien und Massendeportationen von vermeintlichen und tatsächlichen Sowjetgegnern. Schätzungsweise bis zu 65.000 Menschen wurden in Viehwaggons nach Sibirien transportiert.

„Deportation nach Sibirien“ drohte

„Aber vor allem sollte unsere Kultur, unsere Sprache, unsere Kunst, alles Eigene unterdrückt, gebrochen und vernichtet werden“, weiß die Sängerin mit der auffällig stolzen Kopfhaltung, während sich ihre schlanken Hände um das kühle „Keptinis“-Bier schließen. Im Sommer erreicht das Thermometer auch hier im Norden ohne weiteres mal die 30-Grad-Marke.

In der Sowjetunion war es streng verboten, Lieder zu singen, in denen die Vaterlandsliebe einem anderen Vaterland galt als dem offiziellen, vermeintlich „einzigen“ übernationalen Vaterland, nämlich der Sowjetunion. Zu diesen „verpönten“ strafbaren Liedern gehörten auch die Hymnen der baltischen Staaten: Wer es wagte, sie anzustimmen, dem drohten harte Sanktionen, die vom Verlust der Arbeitsstelle bis hin zur Deportation nach Sibirien reichten.

Während der Perestroika versammelten sich Hunderttausende Menschen auf öffentlichen Plätzen im friedlichen Widerstand gegen die sowjetische Okkupation. Sie demonstrierten ihren Wunsch nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion durch lautes, gemeinsames Singen ihrer volkseigenen Lieder und Weisen. Diese Periode wird deshalb heute als „Singende Revolution“ bezeichnet. Ein besonderer Tag für ganz Litauen ist der 23. August 1989. An diesem Tag bildeten fünfzig Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt rund zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über eine Länge von sechshundert Kilometern von Tallinn über Riga bis nach Vilnius – den Baltischen Weg.

Singende Revolution und Baltischer Weg

„Das war so beeindruckend, jeder brachte für sich und einen Nebenmann Essen und Trinken für den ganzen Tag mit, wir sangen den ganzen Tag.“ erzählt Aukse, die heute ihren Lebensmittelpunkt in Rostock hat, dort an der Hochschule für Theater und Gesang unterrichtet und jeden Sommer in ihrer Heimat in der Sommerakademie Studenten ausbildet. Sie hätten sich damals so hingestellt, dass die vielen Sänger dem Osten, also Russland, den Rücken zukehrten. „Ein Pilot kaufte sogar auf eigene Rechnung alle Gladiolen auf, die er bekommen konnte und streute diese, egal was ihm dafür drohte, als Zeichen des friedlichen Widerstandes aus dem Flugzeug über die Menschenkette.“

Überall in der Stadt, auf den Tischen in den Cafés und in den vielen Blumenläden, leuchten einem heute Gladiolen entgegen. In dieser Übergangszeit nach 1989 boten fast alle Theater und andere kulturelle Einrichtungen in Vilnius kostenlos Vorstellungen und Konzerte an. „Ich hatte damals nach der Schauspielausbildung mein erstes Engagement im Chor an der Litauischen Nationaloper“, erzählt Aukse weiter. „Wir haben fast jeden Tag umsonst die Türen geöffnet und gesungen, um an unsere Kultur zu erinnern und die Menschen zu stärken.“

 

Über eine Brücke gehts in die „Künstler-Republik Užupis“. Foto: privat

Wenn man heute durch die Gassen, Alleen und grünen Plätze von Vilnius läuft, entsteht der Eindruck, dass jeder zweite hier ein Künstler ist. Und in Užupis, der „selbsternannten Republik in Vilnius“, wahrscheinlich jeder. Zur Erklärung: Die „Republik Užupis“ ist die kulturelle Sonderzone mit dem Flair der großen Freiheit, die nur 0,6 Quadratkilometer groß am Rande der Altstadt liegt.

Künstlerrepublik mit eigenem Geld und Präsidenten

Kleine Läden, zahlreiche Cafés und Kunsthandwerksbetriebe, Galerien, Skulpturen, schiefe Häuschen, Ateliers, enge Gässchen, überall Kunst. Und mit einem eigenen Präsidenten und einer eigenen Verfassung. Vor der litauischen Unabhängigkeitserklärung 1990 war der ursprünglich jüdische, von drei Seiten durch die Vilnia umflossene Stadtteil das heruntergekommenste Viertel von Vilnius, der soziale Brennpunkt mit vielen Obdachlosen, die es im „Sozialismus“ offiziell gar nicht geben durfte. In den 1990er-Jahren mauserte sich das Areal am Rande der Altstadt dann zum Szeneviertel, immer mehr Künstler siedelten sich an.

Was eigentlich nur eines der Aktionsfeste der Künstlerkolonie sein sollte, wurde 1997 zur Geburtsstunde der „Unabhängigkeit“. Als Parlamentsgebäude und Regierungssitz wurde das Café Užupio kavinė auserkoren, wo auf einer Bronzetafel die 41 Verfassungsartikel verewigt sind. Die hängen jetzt ein paar Meter weiter auf Tafeln in circa 25 Sprachen an einer Mauer und lesen sich auszugsweise wie folgt:

„Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.“, „Jeder Mensch hat das Recht, Fehler zu machen.“, „Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.“, „Jeder Mensch hat das Recht, gewöhnlich und unbekannt zu sein.“ Oder auch „Niemand hat das Recht, Gewalt anzuwenden.“ Und „Jeder Mensch ist für seine Freiheit verantwortlich.“ „Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.“ Und final: „Lass dich nicht unterkriegen! Schlag nicht zurück! Gib nicht auf!“

Eiserner Wolf: Gründungsgeschichte von Vilnius

Nur ein paar Schritte übers Kopfsteinpflaster davon entfernt ist die Atelierwerkstatt der Goldschmiedekünstlerin Vita Pukštaitė-Bružė, einer alten Kunstfreundin von Aukse, die schon lange ihren Souterrainladen hier in der Künstlerrepublik hat und besonders für ihre kunstvollen Emaillearbeiten bekannt ist. Diese hängen in Form von Bildern, Schmuckstücken, Medaillen und Objekten rund um ihren Werkstatttisch oder liegen in Glasvitrinen aus. Die Litauerin sieht sich in ihrer Kunst der Natur und der Volkskunst verbunden. Gleich neben der Tür hängt ein großes Wolfsfell, erst beim Berühren stellt man fest, dass dieses aus spitzen Metallstäben so fein geschmiedet ist, sodass die täuschende Optik eines echten Wolfsfells entsteht.

 

Legendärer Wolfspelz aus Metall: Goldschmiede-Künstlerin Vita Pukštaitė-Bružė in ihrem Atelier Foto: privat

Das handwerkliche Kunstwerk nimmt Bezug auf die Gründungsgeschichte von Vilnius. Die Künstlerin erklärt bereitwillig den Hintergrund: Die Legende berichtet, dass im fernen Altertum der litauische Fürst Gediminas im Šventaragis-Tal nach der Jagd eingeschlafen sei. Im Traum sah er auf dem daneben liegenden Berg einen eisernen Wolf im Mondlicht laut heulend. Ein heidnischer Priester deutete dem Fürsten den Traum: „Der eiserne Wolf symbolisiert eine unbesiegbare Burg und eine Stadt, die an diesem Ort gegründet werden soll“.  Der Fürst ließ daraufhin eine Holzburg errichten, heute steht an der Stelle der Gediminas-Turm auf dem 142 m hohen Burgberg von Vilnius.

Vilnius-Lifestyle: Einfach auf der Bank sitzen und reden

Wer noch höher hinaus will, kann im Abendlicht eine Ballonfahrt über der Stadt machen. Jeden Abend schweben die Ballons über den Dächern der Altstadt, deren Straßen und Plätze sich in der Dämmerung mit Straßenmusikern und vielen ausgehfein hergerichteten Menschen füllen. Diese sitzen oft einfach auf den vielen Bänken in Parks, auf den Plätzen und Mittelstreifen der Boulevards und reden miteinander.

„Ja, das ist ein litauisches Hobby, man sitzt hier einfach auf der Bank und redet miteinander“, lacht Aukse. Alkohol darf in der Öffentlichkeit, also auch beim „Banksitzen“, nicht konsumiert werden. Automatisch kommt die Frage auf, ob vielleicht deshalb die ganze Stadt so sauber ist? Oder vielleicht, weil man viel mehr auf seine Heimat und Umgebung achtet, wenn man so sehr um die eigene Kultur kämpfen musste wie die Litauer?

Wer einen Drink in Gesellschaft nehmen will, der geht in eine der zahlreichen Kneipen oder Bars. Auf dem Weg dahin schallt aus allen Winkeln Musik. In einem Straßencafé mit einer der vielen so liebevoll verzierten Fassaden haben sich an die vierzig Mittzwanziger an Holztischen unter zwei großen Bäumen zusammengefunden. Drei von der großen Gruppe haben ihre Gitarre dabei, und alle singen gemeinsam. Sie stimmen im Chor diese alten litauischen Lieder an, die so voller Melancholie und Schwermut dennoch nie auf einen kämpferischen Teil verzichten wollen.

Die Vilnius-Erzählerin Aukse setzt sich einfach dazu und stimmt ton- und textsicher mit ein. Volkslieder, litauische Popsongs und hier bekannte Gassenhauer: Die musikalische Reise geht quer durch die Jahrzehnte.

Kunst und Musik verbindet – jederzeit

Auch wenn das Sowjetverbot vom Singen der litauischen Nationalhymne und anderer Lieder mit nationalen Inhalten längst vorbei ist, die Litauer halten daran fest, ihre Kultur zu pflegen. Ihre alltägliche „Singende Revolution“ richtet sich in friedlicheren Zeiten nicht gegen jemanden, sondern ist Zeichen der Verbundenheit untereinander für den Erhalt ihrer litauischen Kultur und Sprache.

Die dritte Strophe der Nationalhymne lautet hier: „Möge die Sonne Litauens Finsternis verscheuchen, hell und klar, recht und wahr unsre Schritte lenken.“



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