Londons „Singapur-Strategie“ macht Brüssel Angst: „Wird Brexit zum Erfolg, scheitert EU“

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson will bis Ende des Jahres ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU. Allerdings strebt er es nicht um jeden Preis an. Unterdessen wächst in der EU die Furcht, von den Briten wirtschaftlich abgehängt zu werden.
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Brexit-Anhänger feiern in London den EU-Austritt ihres Landes. Großbritannien hat in der Nacht nach 47 Jahren als erstes Mitgliedsland die Europäische Union verlassen.Foto: Jonathan Brady/PA Wire/dpa/dpa
Von 3. Februar 2020

Für den heutigen Montag (3.2.) ist eine Erklärung des britischen Premierministers Boris Johnson angekündigt, in welcher dieser die Stoßrichtung der Regierung in London bezüglich der künftigen handelspolitischen Beziehungen zur EU skizzieren möchte. Seit Samstag (1.2.) gehört Großbritannien offiziell nicht mehr dem Staatenbund an. Die künftige Zusammenarbeit soll nun in einem umfassenden Abkommen geregelt werden.

Der „Sunday Times“ wurden vorab Auszüge aus Johnsons Rede zugespielt. Darin macht der Premierminister deutlich, dass er bis Ende des Jahres einen Freihandelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU anstrebt, der im Wesentlichen jenem gleichen soll, der zwischen der Europäischen Union und Kanada besteht. Dieses sieht eine Abschaffung von 99 Prozent aller Zölle und Quoten im Warenhandel zwischen beiden Ländern vor.

Brüssel will den EuGH definieren lassen, was „fairer Wettbewerb“ ist

Zudem regelt dieses Abkommen eine Vielzahl an Dienstleistungen, das Vorgehen bezüglich der wechselseitigen Anerkennung von Patenten und Berufsabschlüssen, geografische Ursprungsbezeichnungen oder öffentliches Beschaffungswesen. Wie die „Neue Zürcher Zeitung“ erwähnt, hat auch EU-Chefunterhändler Michel Barnier mehrfach auf dieses Abkommen als mögliches Modell für ein Post-Brexit-Abkommen hingewiesen.

Um jeden Preis ist Johnson jedoch nicht bereit, eine solche Vereinbarung zu unterfertigen. Insbesondere erweckt der Gedanke in der britischen Regierung Argwohn, die EU könnte ihren politischen Marktordnungsanspruch auf Kosten der Briten doch noch durchsetzen, indem sie London auf die Einhaltung von Wettbewerbsbedingungen verpflichtet – und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Organ durchsetzt, das am Ende darüber entscheidet, ob die Briten diesen genügen.

Sollte die EU darauf beharren, dass Großbritannien sich ihren Wettbewerbsregeln unterwerfe, werde es kein Abkommen geben, machte Johnson deutlich. Im äußersten Fall müssten dann eben die Regeln der WTO herhalten, um die Handelsbeziehungen zu managen.

Schleichende Selbstermächtigung zu „Klimazöllen“?

In Großbritannien weist man in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine solche Klausel im Vertrag mit Kanada fehlt. Soweit es um Standards der EU in den Bereichen Hygiene, Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz gehe, habe London nicht vor, diese zu senken, sondern wolle diese durchaus auch selbst ausbauen. Was das Verbot von Staatsbeihilfen geht, die etwa in Nordengland zum Tragen kommen, weist man in London gerne auf die Agrarpolitik der EU hin und Subventionen in anderen Bereichen, etwa unter dem Banner der Förderung erneuerbarer Energien.

Vor allem versteht man in London die Mahnungen Brüssels, Großbritannien möge sich zu „fairen“ Wettbewerbsbedingungen bekennen, als Freibrief dafür, nachteilige Maßnahmen gegenüber den Briten zu setzen, sollte eine zu rigide europäische Politik etwa im „Klimaschutz“ zu einem massenhaften Abwandern europäischer Unternehmen über den Ärmelkanal führen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte immerhin bereits vor wenigen Wochen im Zusammenhang mit dem Handelskonflikt zwischen Brüssel und Washington mögliche „Klimazölle“ ins Spiel gebracht, die Brüssel Ländern auferlegen könne, sollten diese nicht die europäische Politik in diesem Bereich nachvollziehen.

„Aufregender“ Haushalt angekündigt

Beobachter wie der Publizist Wolfram Weimer, der die Situation nach dem Brexit auf dem GMX-Nachrichtenportal analysiert, gehen davon aus, dass aus dem Drang der EU, Großbritannien auf seine Standards festzunageln, die Angst spricht, man könnte gegenüber einem frei agierenden Nachbarn vor der eigenen Küste dauerhaft das Nachsehen haben.

Der britische Finanzminister Sajid Javid will bereits am 11. März einen umfassenden Reformhaushalt vorlegen, der – so Johnson – ein „sehr aufregender“ sein soll. Er nannte bereits mehrfach die Mehrwertsteuer auf Hygieneprodukte als Beispiel für einen Gestaltungsbereich, in dem sich London künftig keine Vorgaben aus Brüssel mehr machen lassen müsse. Bereits jetzt müssten Unternehmen in Großbritannien nur maximal 19 Prozent Steuern auf ihren Gewinn bezahlen.

Wohin sich Johnson politisch bewegen will, ist eindeutig: freiere Märkte, weniger Regulierung, niedrigere Steuern. In Brüssel habe man darob, so Weimer, Angst. Auf der Insel könnte ein „großes Singapur an der Nordsee“ entstehen, das Finanzkonzerne, multinationale Unternehmen, Start-Ups, innovative Durchstarter und Forscher anlocke.

Manfred Weber (EVP) in Sorge

Auch Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstitut ifo in München, warnt vor einem dadurch möglichen Exodus deutscher Unternehmen:

Großbritannien könnte verstärkt gezielte, auf einzelne Unternehmen oder Sektoren zugeschnittene steuerliche Anreize setzen.“

Für einen Steuerwettbewerb mit der EU wäre Großbritannien nach Einschätzung der Experten alles andere als schlecht aufgestellt. Auch der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, sieht akute Gefahren für die gesamte Europäische Union, sollte Großbritannien den Europäern wirtschaftlich davonziehen:

Wenn der Brexit gefühlt ein Erfolg wird, dann ist er der Anfang vom Ende der EU.“

Sollte Großbritannien mit seiner Singapur-Strategie Erfolg haben, dann könne der Brexit zum Stichwortgeber für EU-Skeptiker wie Marine Le Pen in Frankreich oder Viktor Orban in Ungarn werden.



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