Mariupol ist gefallen – Russland präsentiert Kriegsgefangene

Russland feiert die Kapitulation der letzten ukrainischen Verteidiger im Asow-Stahlwerk in Mariupol als einen großen Kriegserfolg. Selenskyj versucht, die bisher größte Niederlage hingegen zu verteidigen.
Ein APC der Miliz der sogenannten Volksrepublik Donezk begleitet Busse mit ukrainischen Soldaten zur Strafkolonie in Oljoniwka, nachdem sie das belagerte Stahlwerk Azovstal in Mariupol verlassen haben.
Ein APC der Miliz der sogenannten Volksrepublik Donezk begleitet Busse mit ukrainischen Soldaten zur Strafkolonie in Oljoniwka, nachdem sie das belagerte Stahlwerk Azovstal in Mariupol verlassen haben.Foto: Uncredited/AP/dpa
Epoch Times23. Mai 2022


Wie Siegestrophäen führt das russische Verteidigungsministerium in einem Video die gefangenen letzten ukrainischen Verteidiger von Mariupol vor. Vor der Kulisse des Stahlwerks Asovstal stehen die Männer mit Bärten in Reih und Glied. Ihre Gesichter sind ausgebleicht nach Wochen ohne Sonne in den Bunkeranlagen der Industriezone. Das Staatsfernsehen in Moskau schwärmt von einer „beispiellosen Operation“ – zur „Befreiung“ des Stahlwerks und der kompletten Übernahme der strategisch wichtigen Hafenstadt.

Auch im ukrainischen Internet kursieren die russischen Aufnahmen von den Männern und Frauen. Die Freude über ihre Rettung überwiegt bei der Trauer über die Niederlage. Der Verlust der weitgehend zerstörten Stadt ist der schwerste Verlust bisher für die Ukraine in dem Krieg, den Kremlchef Wladimir Putin am 24. Februar begonnen hat.

Mariupol galt als Symbol des Widerstands

Die Stadt mit einst fast 500.000 Einwohnern gilt seit Wochen weltweit als Symbol des ukrainischen Widerstandes gegen Russland. Das ist nun vorbei – auch, weil aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj der Westen nicht früher schwere Waffen geliefert hat.

Eltern und Ehepartner haben seit Tagen um die Rettung der letzten Verteidiger von Mariupol gebeten. Das Flehen der Ehefrauen und Mütter bei Pressekonferenzen, die Demonstrationen in vielen Ländern sind im Internet allgegenwärtig. Am Freitagabend dann teilt Moskau mit, alle hätten sich ergeben und würden versorgt werden. Fast 2.500 Verteidiger von Mariupol sollen in Gefangenschaft sein. Ihr Schicksal bleibt ungewiss.

Kiew setzt auf Gefangenenaustausch

Putin hat zugesichert, sie blieben am Leben, wenn sie sich ergeben. Selenskyj setzt deshalb nun fest auf einen Gefangenenaustausch, wie es ihn in der Vergangenheit immer wieder einmal gegeben hat. Aber viele russische Politiker sind dagegen, fordern Prozesse zur Verurteilung der „Nazi-Verbrecher“.

Die russischen Medien nutzen den Moment, als die letzten Männer und Frauen das Werk verlassen, um sie erneut als „Neonazis“ zu brandmarken. Sie müssen sich vor Kameras ausziehen, Tätowierungen sind zu sehen, Totenköpfe, Keltenkreuze und ein Hakenkreuz sowie immer wieder eine „schwarze Sonne“, angeblich das Erkennungssymbol der Nationalisten. Im Falle einer Anklage wegen Kriegsverbrechen droht den Gefangenen in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Donezker Gebiet, wo Mariupol liegt, die Todesstrafe.

Mariupol hat für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment „Asow“ eine große symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von Separatisten kontrollierte Hafenstadt. „Asow“ hatte zuvor bereits seine Basis bei der benachbarten Hafenstadt Berdjansk verloren.

Zugang zum Asowschen Meer

Die Großstadt ist aber auch der letzte Punkt an der Küste des Asowschen Meeres, der nun komplett von den russischen Kräften kontrolliert wird. Damit können die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek eigenständig bleiben. Sie haben den Zugang zu den Weltmeeren – und können über den gut ausgebauten größten Hafen der Region ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg exportieren.

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat der „Feind“ bereits mit der Räumung von Minen begonnen, um den Hafen wieder funktionstüchtig zu machen. Die Militärführung in Kiew geht davon aus, dass die prorussischen Kräfte mithilfe Moskaus nun ihren Vormarsch in den Gebieten Luhansk und Donezk verstärken, um den gesamten Donbass komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreißen. Es geht ihnen dort auch um eine feste Landverbindung zu der von Russland 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

Widerstand hatte russische Gruppierung gebunden

Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen Moskaus Invasion hat lange dafür gesorgt, dass nach ukrainischen Angaben eine russische Gruppierung von bis zu 20.000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden wurde. Diese russischen Soldaten könnten für die stockende Offensive in Richtung Slowjansk oder auch den sich abzeichnenden Kessel bei Sjewjerodonezk nun das entscheidende Übergewicht bringen.

In Kiew will indes niemand von einer Niederlage sprechen. „Die ukrainischen Verteidiger von Azovstal, Helden, nicht zu brechen. Danke!“, sagt etwa Vizeaußenministerin Emine Dschaparowa am Kapitulationstag. Dabei hat sich der Asow-Kommandeur Denys Prokopenko lange gegen das Aufgeben gewehrt. „Macht keine Helden aus Deserteuren und Kämpfern, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben haben“, sagt der 30-Jährige kürzlich in einem seiner Videos.

Immer wieder haben die Offiziere öffentlich kritisiert, die ukrainische Führung tue zu wenig, um Mariupol zu befreien. Staatsoberhaupt Selenskyj hingegen beteuert am Samstag in einem Fernsehinterview zum dritten Jahrestag seiner Amtseinführung im Beisein seiner Frau Olena, alles getan zu haben. Er habe mit der Türkei, der Schweiz, Israel, Frankreich gesprochen, die einen Draht zur russischen Führung hätten, „unseren Militärs entsprechende Waffen zu geben, damit wir auf militärischem Wege bis Mariupol gelangen, um diese Leute freizukämpfen“. Gebracht hat es wenig.

Das weitere Geschehen hänge nun von Vereinten Nationen, vom Roten Kreuz und von Russland ab, betont Selenskyj. Einen Gefangenaustausch solle es geben. „Wir werden sie nach Hause holen.“ (dpa/mf)



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