Misstrauen oder Verzögerungstaktik? Brexit Johnson lässt Gespräche mit No-Deal-Gegnern platzen

Premierminister Johnson steuert auf einen ungeordneten EU-Austritt Großbritanniens zu. Mit einer Zwangspause für das Parlament will er verhindern, dass ihn die Abgeordneten per Gesetz zum Einlenken zwingen. Doch die wehren sich.
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In London stehen die Zeichen auf Sturm.Foto: iStock
Epoch Times2. September 2019

Kurz vor der Rückkehr des britischen Parlaments aus den Sommerferien hat Premierminister Boris Johnson ein für heute geplantes Treffen mit Gegnern seines Brexit-Kurses aus den eigenen Reihen abgesagt.

Damit stehen die Zeichen in London klar auf Sturm: Wenn das Parlament am Dienstag erstmals wieder zusammentritt, wird mit einer beispiellosen Auseinandersetzung gerechnet. Johnson will sein Land notfalls auch ohne Abkommen am 31. Oktober aus der EU führen, die Opposition und einige Rebellen aus der Regierungsfraktion wollen dies um jeden Preis verhindern.

Die Gegner eines No-Deal-Brexits wollen ein Gesetz verabschieden, das Johnson dazu zwingt, das EU-Austrittsdatum noch einmal zu verschieben, sollte kein Deal zustande kommen. Dafür ist aber wenig Zeit, weil der Premierminister das Unterhaus schon kommende Woche in eine Zwangspause schicken will. Die Abgeordneten sollen erst am 14. Oktober zurückkommen. Der Schritt ist höchst umstritten, auch in Johnsons eigenen Reihen. Es sei ein Angriff auf die Demokratie, das Parlament in Zeiten einer nationalen Krise kaltzustellen, argumentieren Kritiker.

Selbst wenn die Opposition in der kurzen Zeit vor der Zwangspause ein solches Gesetz durchpeitschen kann: Unklar scheint, ob sich die Regierung daran halten wird. Man müsse warten, was genau darin stehe, meinte Staatsminister Michael Gove, ein Vertrauter Johnsons, am Sonntag. Er löste damit neue Empörung aus. Der Brexit-Experte der oppositionellen Labour-Partei, Keir Starmer, zeigte sich entsetzt.

Keine Regierung steht über dem Gesetz“, schrieb er auf Twitter.

Das weitere Vorgehen ist unklar. Kompliziert ist die Lage auch deshalb, weil Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat, sondern sich an teils Jahrhunderte alte Gepflogenheiten hält. Hier einige mögliche Szenarien für beide Seiten:

Die Opposition

Dringlichkeitsdebatte: Die Abgeordneten, die gegen einen „harten Brexit“ sind, haben angedeutet, die sogenannte Standing Order 24 zu nutzen, um am Dienstag eine Dringlichkeitsdebatte im Unterhaus abzuhalten. Solche Debatten führen normalerweise nicht zu verbindlichen Abstimmungen.

Die Hoffnung ist jedoch, dass Parlamentspräsident John Bercow ausnahmsweise eine solche Abstimmung zulässt. Das würden den Abgeordneten erlauben, die Tagesordnung im Unterhaus zu bestimmen und ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit zur Abstimmung zu bringen.

Die Labour-Partei will nach Angaben ihres Brexit-Experten Keir Starmer ein Gesetz einbringen, das auch eine „Verlängerung“ der Austrittsfrist über den 31. Oktober hinaus ermöglichen soll. Medienberichten zufolge üben die regierenden Tories bereits massiven Druck auf ihre Abgeordneten aus, nicht für ein solches Gesetz zu stimmen.

Misstrauensvotum und Neuwahlen

Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat ein mögliches Misstrauensvotum gegen Johnson ins Spiel gebracht. Das Regierungslager verfügt im Parlament über eine Mehrheit von lediglich einer Stimme. Für ein erfolgreiches Misstrauensvotum würde eine einfache Mehrheit genügen. Die Abgeordneten hätten danach 14 Tage Zeit, eine neue Regierung zu bilden.

Die Opposition konnte sich bisher jedoch nicht darauf einigen, wer eine solche Übergangsregierung führen könnte. Die übrigen Parteien weigern sich bisher, zu Steigbügelhaltern von Labour-Chef Corbyn zu werden. Sollte nach zwei Wochen niemand eine Mehrheit im Unterhaus zusammen bekommen, würden Neuwahlen angesetzt. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass diese vor dem derzeitigen Brexit-Datum am 31. Oktober abgehalten werden könnten.

Der Gang vors Gericht

Es sind bereits mehrere Klagen gegen die von Johnson verordnete Zwangspause für das Parlament bis zum 14. Oktober und einen Brexit ohne Abkommen anhängig. Schottlands höchstes Zivilgericht verhandelt am Dienstag über eine Klage schottischer Abgeordneter gegen die Zwangspause. Ein Londoner Gericht berät am Donnerstag über eine Klage der Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller, die ebenfalls eine gerichtliche Überprüfung der Zwangspause beantragt hat. Auch im nordirischen Belfast wurden Klagen eingereicht.

Den bestehenden Austrittsvertrag verabschieden

Parlamentarier, die unbedingt einen No-Deal-Brexit verhindern wollen, könnten das von Johnsons Vorgängerin Theresa May mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen aus der Schublade holen. Dies wurde zwar drei Mal vom Unterhaus abgelehnt und von Parlamentspräsident Bercow für weitere Abstimmungen blockiert. Befürworter könnten jedoch argumentieren, es sei besser als gar kein Abkommen.

Das Parlament sabotieren

Die Regierung denkt angeblich über verschiedene Schritte nach, um die Abgeordneten auszubremsen, darunter auch das Vorstellen eines neuen Haushalts – ein Standardvorgang im britischen Gesetzgebungskalender, der das Parlament vor dem 31. Oktober zusätzlich beschäftigen würde.

Möglich wäre auch die Verschleppungstaktik, bei der Abgeordnete des Oberhauses immer weiter reden, um andere eben davon abzuhalten. So könnten im Unterhaus verabschiedete Gesetze zusätzlich blockiert werden.

Opposition ignorieren

Johnson hat sich Berichten zufolge informiert, ob er rechtswidrig handeln würde, wenn er ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz für einen Brexit-Aufschub einfach ignorieren oder nach einem Misstrauensvotum nicht zurücktreten würde. Medienberichten zufolge erwägt er sogar, Königin Elizabeth II. darum zu bitten, ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit nicht in Kraft zu setzen.

Das Volk befragen

Johnson könnte selbst eine Parlamentswahl ausrufen und darauf hoffen, ein Mandat für einen Brexit ohne Abkommen zu bekommen. Für Neuwahlen bräuchte er allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und müsste sich beim Urnengang darauf gefasst machen, Stimmen an die Brexit-Partei von Nigel Farage zu verlieren.

Seit dem 1. September nehmen britische Beamte an den meisten EU-Treffen nicht mehr teil. Das hatte Johnsons Regierung verfügt, damit die Beamten sich auf andere Aufgaben konzentrieren können.

Bundesaußenminister Heiko Maas forderte die britische Regierung auf, Vorschläge für einen geregelten Brexit vorzulegen. „Wir sind weiterhin überzeugt, dass ein geordneter Brexit für beide Seiten die bessere Lösung ist“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). Falls sich aber herausstelle, dass ein Brexit ohne Abkommen unausweichlich werde, sei Deutschland auf dieses Szenario vorbereitet. (dpa/sua)



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