Monument für die Vergessenen vom Tian’anmen 1989

Titelbild
Bis heute gilt eine Aufklärung über das Tian'anmen-Massaker in China als Tabu.Foto: Feng Li/Getty Images

 

Wieder steht der 4. Juni bevor, der Gedenktag an das Tian’anmen-Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China. Bis heute gilt eine Aufklärung darüber, was an diesem Tag im Jahr 1989 wirklich in Peking passiert ist, in China als Tabu. Es gibt eine Menge an Dokumentationen und Berichten von Augenzeugen, die besagen, dass mehrere hundert oder sogar Tausende friedliche Demonstranten damals ihr Leben während der gewaltsame Niederschlagung der Proteste durch die „Volksbefreiungsarmee“ verloren haben. Der Befehl kam von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh).

Was haben die Menschen in Peking damals erlebt? Wie war ihre Reaktion danach? Wie haben sie sich in jenem Moment gefühlt? Ich besuchte damals noch eine Grundschule in Peking und erinnere mich an das Tian’anmen-Massaker vielleicht aus einem anderen Blickwinkel als vielen Medien.

Als Grundschülerin verstand ich damals noch nicht, was die vielen Studenten und Arbeiter, die sich hauptsächlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens (auf Chinesisch: Tian´anmen-Platz) versammelt hatten, eigentlich wollten. Ich erlebte aber, dass die Menschen in Peking vor dem Tian´anmen-Massaker zusammengehalten und sich über mögliche politische Veränderungen in China wirklich gefreut haben. Die Demonstrationen begannen ja schon im April 1989.

Mein Vater ist damals oft mit seinem Fahrrad zum Platz des Himmlischen Friedens gefahren und er nahm mich gerne auf seinem Rücksitz mit. Einmal trafen wir unterwegs ein paar junge Menschen, die auf der Ladefläche eines kleinen Transporters saßen und Banner trugen. Ich wusste, dass sie Demonstranten waren. Sie winkten uns Radfahrern zu und machten mit der Hand das Siegeszeichen „V“ und wir alle erwiderten die Geste. Es war lauter Jubel zu hören und ein Gefühl von Aufbruch lag in der Luft. So aufgeregt ich damals war, wirkte das grausame Ende dieser Demonstration umso erschreckender. Seit dem Tian´anmen Massaker bekam das Siegeszeichen für mich die Bedeutung von Trauer und Verzweiflung.

In meiner Grundschule waren die Lehrer auch auf der Seite der Studenten. Ich erinnere mich, dass unsere Lehrerin eines Tages einen Brief vorgelesen hat, den sie im Namen unserer Klasse an die Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschrieben hatte. Die Sonne schien herein und sie lächelte wunderschön, als sie uns berichtete, dass wir nun auch einen Teil dieser Studentenbewegung werden. Später in Deutschland hörte ich Augenzeugenberichte, dass kurz nach dem Massaker blutverschmierte Briefe auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu sehen waren. Damals haben so viele Chinesen in dieser Art ihre Solidarität gezeigt und wahrscheinlich war keiner von uns in der Lage gewesen, an ein bevorstehendes Massaker zu denken.

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Reisbrei und Hühnersuppe

[–]

Reisbrei und Hühnersuppe

Ich erinnere mich an eine andere Szene kurz vor dem 4. Juni. Meine Mutter kochte nach dem Abendessen Reisbrei. Von ihrem Gespräch mit meinem Vater hatte ich damals nur so viel verstanden: Die Kinder auf dem Platz des Himmlischen Friedens hätten angekündigt, dass sie nichts mehr essen wollten. Aber Kinder sollen essen, also bringen wir süßes Wasser mit Reiskernen zu ihnen, denn trinken sollen und dürfen sie immer noch.

Wir fuhren nach dem Kochen mit dem Bus zum Platz des Himmlischen Friedens. Ich erinnere mich nur daran, dass ich so dicht von Menschen umgeben war, dass ich keine Haltegriffe erreichen konnte und sie auch nicht brauchte. Der Warmhaltebehälter in der Tragetasche meiner Mutter drückte gegen meine Brust. Es war dunkel im Bus und ich konnte manchmal gekochtes Fleisch riechen. Einmal haben meine Mutter und ich an einer Bushalterstelle eine Kollegin getroffen, in deren Stoff-Tragtasche offenbar auch ein Behälter steckte. Sie lächelten einander an und begrüßten sich auf einzigartige Weise: „Auch Reisbrei?“ „Nein, Hühnersuppe“.

Von jener Nacht, als das Tian´anmen-Massaker geschah, habe ich nur verschwommene Erinnerungen: An laute Schüsse und daran, dass meine Mutter mich auf dem Bett fest in ihre Arme genommen hat. Später hieß es, dass Peking unter Kontrolle des Militärs stand. Wir schauten fern und ich erinnere mich, dass die Sprecherin des staatlichen Fernsehsenders CCTV mit deutlich geschwollenen Augen vorgelesen hat, dass die Demonstranten friedlich den Platz des Himmlischen Friedens verlassen hätten. Während der Meldung, dass keine Schüsse gefallen seien, war die Kamera auf ein deutliches Einschussloch im „Denkmal für die Helden des Volkes“ gerichtet, das mitten auf dem Platz des Himmlischen Friedens steht. Ich denke, es war die Art der damaligen CCTV-Mitarbeiter, ihre Wut und Trauer zu zeigen.

Die Bürger in Peking waren wütend und mein Vater und viele andere Menschen gingen auf die Straße. Sie sprachen davon, den Einmarsch der Militärfahrzeuge zu verhindern. Ich erinnere mich an einen Spaziergang, bei dem ich sah, wie viele Menschen einen Militär-LKW, auf dessen Ladefläche Soldaten saßen, eingekreist hatten. Einige Männer rückten vor und schrien die Soldaten an, wie sie auf die wehrlosen Studenten schießen konnten. Die Soldaten, die von irgendwoher nach Peking geschickt worden waren, standen reglos da. Ich vermute, dass sie von solchen Fragen und der wütenden Menschenmasse überrascht waren. Diejenigen, die wirklich für das Massaker verantwortlich waren, feierten wahrscheinlich ihren „Sieg“ mit Funktionären der KPCh.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: „Er ist doch noch ein Kind“

[–]

„Er ist doch noch ein Kind“

Später, bei einem Spaziergang mit meinem Vater, sah ich die Leiche eines verbrannten Soldaten an einer Straßenlaterne hängen. Das Bild verschwand schnell im Dunkel und die Hand meines Vaters bedeckte meine Augen. Das war das letzte Mal zu dieser Zeit, dass ich rausgehen durfte. Eines Tages kam mein Vater nach Hause und war völlig erschüttert. Er sagte weinend: „Sie haben einen Soldaten aus dem Fahrzeug gezerrt und ihn dann zusammengeschlagen. Der Soldat schrie dabei ‚Schlagt mich nicht mehr, ich weiß doch nichts‘.“ Und mein Vater sagte erschüttert: „Er ist doch noch ein Kind.“

Irgendwann brannten abends nur noch die Straßenlaternen. Es hieß, dass die Soldaten auf diejenigen schießen, deren Zimmer beleuchtet seien. In jenen dunklen Nächten war das einzige Licht in unserer Wohnung die Anzeige unseres Radios. Wir hörten das chinesische Programm von Voice of America (VOA). Das Signal wurde gestört, aber wir versuchten trotz der lauten Hintergrundgeräusche die Worte zu verstehen. Ich erinnere mich, dass eine junge Frau weinend sagte: „Wir haben mehrere Reihen gebildet und gingen Hand in Hand langsam rückwärts. Sie haben ununterbrochen geschossen. Wir schrien dabei ‚Hunde! Tiere!‘ Ich sah die Studenten vor mir fallen, Reihe für Reihe. Zum Schluss sammelten wir uns vor dem Denkmal für die Helden des Volkes. Viele starben dort…“.

Irgendwann wurde wieder gearbeitet. Meine Mutter sagte mir später, dass in ihrer Firma, einem staatlichen Unternehmen, gefordert worden sei, dass die Mitarbeiter gegenseitig aufdecken, wer zum Platz des Himmlischen Friedens gegangen sei. Meine Mutter erzählte: „Die Todesangst, die ich während der Kulturrevolution erlebt habe, war wieder da. In diesem Moment stand Frau Liu auf und sagte ‚Wer von uns war denn nicht dort?!‘. Was für eine mutige und gute Frau! Die Firma hat dann eine leere Liste abgegeben.“ Ich fragte mich, ob meine Mutter und ihre Kollegin, die sich damals an der Bushalterstelle getroffen hatten, sich nun feindselig betrachten würden, wenn diese Frau Liu nicht hervorgetreten wäre.

Nichts wird wirklich vergessen

Jahrelang konnte ich meine Erfahrung mit dem Tian´anmen-Massaker nicht verarbeiten. Ich denke immer noch an die Demonstranten, die Soldaten, die auch nach dem Massaker noch nach Peking geschickt wurden, die Menschen in Peking und die Angehörigen aller Verstorbenen und ich empfinde nur Leid, fast unerträgliches Leid.

Später stellte ich mir die Frage: War das Tian´anmen-Massaker nur eine weitere Umsetzung der Theorie von Mao Tse-tung, dass es in China so viele Menschen gebe und „wie kann es gehen ohne Kampf“? Seiner Meinung nach sollte das Volk immer wieder zur Gewalt gegeneinander aufgehetzt werden und sich in dieser Atmosphäre der Angst von der KPCh regieren lassen. Dient das Töten von Menschen der KPCh zur Aufrechterhaltung der Kontrolle? Etwa 13 Jahre vor dem Tian´anmen-Massaker endete die zerstörerische Periode der Kulturrevolution in China. Zehn Jahre danach, im Jahr 1999, begann die KPCh mit der Verfolgung von Falun Gong, einer friedlichen buddhistischen Kultivierungsschule. Diese Verfolgung dauert bis heute an.

Jahre vergingen und alles, was beim Tian´anmen-Massaker passiert ist, scheint vergessen zu sein. Ich sah, dass meine Eltern nach einigen Jahren ihre Aufmerksamkeit auf den Aktienmarkt in China richteten. Noch weitere Jahre später hörte ich Diskussionen von jungen Chinesen, ob das Tian´anmen-Massaker überhaupt je geschehen sei. Dennoch weiß ich, dass es ein Monument im Herzen des chinesischen Volks gibt, auf dem alle Leiden, die es unter dem Regime der KPCh ertragen hat, eingemeißelt sind.

Nichts wird wirklich vergessen. Bis heute spricht meine Mutter voller Respekt von Frau Liu, die damals durch Ehrlichkeit und Mut ihre Kollegen geschützt hat: „Eine wahrhaft mutige und gute Frau“.

 



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion