Nach EuGH Urteil – Ungarisches Asylverfahren vor Reform?

Wenn die ungarischen Behörden einen Flüchtling als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ einstufen, hat er keinen Anspruch mehr auf Asyl. Eine Begründung ist nicht weiter nötig. Diese Praxis scheint nun nach einem neuen Entscheid des EU-Gerichtshofs gekippt zu werden. Für viele ungarische Anwälte ein Grund zum Feiern.
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Ungarn führt strenge neue Grenzkontrollen für Migranten ein, die das Land betreten, Röszke, Ungarn, 2015.Foto: Christopher Furlong/Getty Images
Von 29. September 2022

Ungarns Asylpolitik wird in der EU häufig kritisiert. Kürzlich entschied der Europäische Gerichtshof über einen konkreten ungarischen Fall: Dem Syrer, der seit 20 Jahren in Ungarn lebt, wurde der Flüchtlingsstatus ohne ausreichende rechtliche Begründung entzogen.

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass das ungarische Asylgesetz die Gerichte und Behörden mit bindenden amtlichen Sachverständigengutachten in ihrer Arbeit einschränkt und gegen EU-Recht verstößt. Ungarische Rechtsaktivisten sehen in dem neuen Urteil das Ende einer jahrzehntelangen illegalen Praxis, insbesondere angesichts des Drucks der EU auf Ungarn.

Hintergrund der aktuellen Entscheidung ist der Fall eines Syrers mit Pseudonym G. M. (Rechtssache C-159/21), der von Rechtsvertretern der ungarischen Menschenrechtsorganisation „Helsinki-Komitee“ vor dem Europäischen Gerichtshof vertreten wurde.

Der abgeschobene syrische Flüchtling war seit 20 Jahren in Ungarn

Der Flüchtling lebte bereits zwanzig Jahre in Ungarn, berichtete kürzlich László Arató, Korrespondent des ungarischen Onlineportals „Szabad Európa“ (Freies Europa).

Im Jahr 2002, kurz nach seiner Anreise nach Ungarn, wurde der syrische Staatsbürger G. M. von einem ungarischen Gericht wegen Drogenmissbrauchs zu einer Haftstrafe verurteilt. Im Juni 2012 wurde G. M. in einem Gerichtsurteil als Flüchtling anerkannt. 2019 wurde sein Flüchtlingsstatus jedoch mit einem Ausweisungsbefehl widerrufen.

Die Entscheidung basierte auf einer Entscheidung des Amtes für Verfassungsschutz und des Zentrums für Terrorismusbekämpfung. Die beiden Behörden kamen zu dem Schluss, dass der Aufenthalt von G. M. eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt. G.M. und die Asylbehörde wurden über die Gründe der Einstufung nicht informiert.

G. M. erhob Klage in Ungarn und der Richter in dieser Rechtssache verwies den Fall an den Europäischen Gerichtshof. Der Richter wollte unter anderem wissen, ob der Flüchtlingsstatus aufgrund einer Entscheidung entzogen werden kann und warum G.M. und sein Anwalt die Akte während des Verfahrens nicht einsehen durften.

Auch wenn das Urteil zugunsten von G. M. ist, entscheidet der Europäische Gerichtshof nicht über den Streitfall vor dem nationalen Gericht. Es ist daher fraglich, ob dieses Urteil ausreicht, um die Entscheidung über die Entziehung der Flüchtlingsanerkennung von G. M. in Ungarn aufzuheben.

„Nationales Sicherheitsrisiko“ als geheime Kategorie

Seit 2009 ist im ungarischen Asylgesetz festgelegt, dass die Asylbehörde „im Falle eines Sachverständigengutachtens in einem bestimmten Asylverfahren nicht von der Stellungnahme der Sachverständigenbehörde abweichen darf“.

Flüchtlinge am Bahnhof der ostkroatischen Stadt Tovarnik warten auf einen Zug zur ungarischen Grenze zu besteigen, 2015. Foto: STR/AFP via Getty Images

Im Zusammenhang mit Flüchtlingen bedeute dies meist, dass der Fall abgeschlossen werde, wenn die nationale Sicherheitsbehörde einen Flüchtling als Gefahr für die nationale Sicherheit einstufe, schreibt das Helsinki-Komitee in seinem Bericht. Von da an habe die Asylbehörde keine Möglichkeit mehr, das Gutachten zu überprüfen oder anzufechten. Das Gleiche gelte für den Betroffenen.

Damit blieben dem Richter zwei Möglichkeiten: Die Anerkennung des Flüchtlingsstatus zu verweigern oder einen bereits erteilten Flüchtlingsstatus abzuerkennen. Es sei daher unmöglich zu wissen, warum eine Person ein Risiko für die nationale Sicherheit Ungarns darstelle.

Rechtsanwältin: „Niemand möchte staatlicher Willkür ausgesetzt sein“

Auf die Frage, warum es nicht möglich sei, die Informationen zu erhalten, auf die sich solche negativen Entscheidungen stützen, erklärte das Helsinki-Komitee, es sei grundsätzlich möglich, den Zugang zu vertraulichen Informationen über eine Person zu beantragen. In der Praxis aber werde eine solche Befugnis nicht erteilt. Auch könnten die so erhaltenen Informationen, selbst wenn sie gewährt würden, nicht im Asylverfahren eingebracht werden.

Diese Regelung „war schon immer ein Problem, weil Menschen ihrer Rechte beraubt und des Landes verwiesen werden können, ohne dass sie die Gründe dafür kennen und sich dagegen wehren können“, so die Organisation in einer Erklärung. Es sei wichtig, die nationale Sicherheit zu schützen, aber es sei inakzeptabel, dass solche Gutachten, als „Trumpfkarte eingesetzt werden“.

Niemand möchte einem willkürlichen staatlichen Verfahren unterworfen werden, bei dem er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht kennt und nicht weiß, gegen was er sich verteidigen soll. Deshalb begrüße ich als Juristin und als Bürgerin das heutige Urteil des EuGH“, sagte Barbara Pohárnok, Juristin des Ungarischen Helsinki-Komitees.

Wandel in der Praxis

Laut den Rechtsverteidigern des Helsinki-Komitees mussten sich mehrere ihrer Mandanten vor Gericht verteidigen, ohne dass ihnen mitgeteilt wurde, warum der betreffende Asylbewerber als Risiko eingestuft wurde. Als Beispiel führen sie den Fall einer älteren russischen Frau an, die seit 20 Jahren in Ungarn lebt, mit einem Ungarn verheiratet ist und auch politisch nicht aktiv ist.

Auch der Fall des Flüchtlings, der gerade vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde, gehört zu einem Mandat der Rechtsverteidiger des Helsinki-Komitees. Das höchste EU-Gericht befand in seinem Fall, dass es nicht rechtens ist, dass der Betroffene oder sein Rechtsberater nur nachträglich und nach Genehmigung Zugang zu den ausschlaggebenden Informationen erhielten. Zudem dürfe sich die Asylbehörde bei ihrer Entscheidung nicht allein auf das Urteil einer anderen Behörde verlassen, ohne dass Gründe genannt würden.

EU: Die Asylregeln in Ungarn schon früher problematisch

Das ungarische Onlineportal „Szabad Európa“ mahnte in einem kürzlich erschienen Artikel, dass der Europäische Gerichtshof und der im Europarat angesiedelte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits früher Entscheidungen gegen Ungarn gefällt hätten.

Sie hätten unter anderem festgestellt, dass in den sogenannten Transitzonen unrechtmäßig Menschen festgehalten würden, was gegen internationales Recht verstoße. Weiter erklärten sie, dass das ungarische Asylsystem nicht den EU-Standards entspreche.

Nach geltendem ungarischem Recht muss ein Antragsteller zunächst einen Asylantrag bei einer diplomatischen Mission oder konsularischen Vertretung abgeben und erst wenn dem Antrag stattgegeben wird, darf er nach Ungarn einreisen.

Ungarns Außenminister: „Flüchtlinge haben nicht das Recht, ihr Reiseziel auszusuchen“

Wie die ungarische Nachrichtenagentur MTI 2021 berichtete, erklärte Außenminister Péter Szijjártó bei der UN-Sitzung im September 2021, dass die Position der ungarischen Regierung auf zwei Säulen beruhe. Es gelte „einerseits die uneingeschränkte Achtung des Völkerrechts und andererseits das Grundprinzip, dass die Hilfe dorthin gebracht werden sollte, wo sie gebraucht wird, und nicht, um hier Unruhe zu stiften“, sagte er.

Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó spricht auf der 76. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen im UN-Hauptquartier am 23. September 2021 in New York. Foto: MARY ALTAFFER/POOL/AFP via Getty Images

Szijjártó meinte, dass das internationale Recht eindeutig sei: „Wenn jemand zur Flucht gezwungen ist, hat er das Recht, vorübergehend im ersten sicheren Land zu bleiben. Aber sie haben nicht das Recht, ihr Reiseziel durch friedliche, sichere Länder auszusuchen.“

Wir gewähren niemandem Asyl, der unsere Grenzen in die eine oder andere Richtung verletzt“, betonte der Außenminister.

(Susan Berg hat zum Artikel beigetragen)

 

 

 

 



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