Nach Israel-Schelte: Erdoğan-Besuch in Berlin wird zum diplomatischen Drahtseilakt
Am kommenden Freitag, 17.11., wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Besuch in Berlin erwartet. Der Nahost-Konflikt und die jüngsten heftigen Verbalattacken des türkischen Staatsoberhauptes gegen Israel machen das Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer besonders heiklen Angelegenheit.
Scholz: „Faschismus“-Vorwurf gegen Israel „absurd“
Erdoğan hatte jüngst nicht nur die Terroristen von der Hamas als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet. Er hatte zudem Israel des „Faschismus“ geziehen. Zudem stellte er die Legitimität Israels infrage. Er erklärte, dieses versuche, „einen Staat auf Land zu errichten, das dem palästinensischen Volk geraubt wurde“. Die Bezeichnung in Judäa und Samaria lebender Araber als „Palästinenser“ ist jedoch jünger als der moderne Staat Israel.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Faschismus-Vorwürfe Erdoğans am Dienstag als „absurd“ zurückgewiesen. Israel fühle sich „den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet“ und handele in seinen Aktionen entsprechend. Scholz äußerte dies, wie die „Welt“ berichtet, während einer Pressekonferenz mit Griechenlands Ministerpräsident Konstantin Mitsotakis. Das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei gilt historisch als schwierig.
Ob und in welcher Weise sich Scholz am Freitag gegenüber Erdoğan in dieser Sache äußern wird, ist ungewiss. Am Dienstag erklärte er, es müsse „sehr klar gesagt“ werden, dass Israel eine Demokratie sei. Das werde man „auch in jedem Gespräch und bei jeder Gelegenheit betonen, dass das unsere Sicht der Dinge ist.“
Der Bundeskanzler wird den türkischen Präsidenten am Freitagabend zu einem Arbeitsessen im Kanzleramt in Berlin empfangen. Davor wird Erdoğan Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen.
Forderungen nach Ausladung von Erdoğan werden lauter
Neben JU-Chef Johannes Winkel fordert beispielsweise auch der „Welt“-Journalist Deniz Yücel mittlerweile eine Ausladung Erdoğans. Dieser sei zum Wortführer der „globalen Solidarität mit der Hamas“ geworden. Das habe in dieser Form nicht einmal deren Großfinanzier Katar gemacht.
Erdoğan sei, so Yücel, „von Haus aus Islamist und Antisemit“. Der Journalist nahm damit Bezug auf die politischen Ursprünge des heutigen türkischen Präsidenten in der Milli-Görüş-Bewegung von Necmettin Erbakan.
Zwar sei Erdoğan im Unterschied zu diesem auch Pragmatiker. Allerdings habe sich der nunmehrige Schwenk erst eingestellt, nachdem sowohl Israel als auch die Hamas dessen Angebot zur Vermittlung nicht wahrgenommen hatten.
„Palästina“-Narrativ als „sechste Säule des Islam“?
Der Verweis auf die Koalition Erdoğans mit Nationalisten und auf dessen Wurzeln in der antisemitischen, der Muslimbruderschaft nahestehenden Erbakan-Bewegung erscheint jedoch als sehr einfach. Der türkische Präsident muss keine Wahlen mehr gewinnen, er könnte auch eine pragmatische Politik gegenüber Israel verfolgen – was er seit 2002 phasenweise auch gemacht hatte.
Die neuerliche Anti-Israel-Rhetorik ist ein strategisches Instrument zur Sicherung seines politischen Erbes. Erdoğan weiß um das Mobilisierungspotenzial des „Palästinenser“-Mythos in der islamischen Welt. Der Herausgeber der „Islamischen Zeitung“, Sulaiman Wilms, hatte 2014 ironisch angedeutet, für viele Muslime würde dieser so etwas wie eine „sechste Säule des Islam“ darstellen. Und das, obwohl es sich um keinen religiösen Konflikt handele.
Dass sich unter dem Banner von „Palästina“ dennoch die Massen innerhalb der muslimischen Welt vereinen lassen, ist für die Türkei dennoch geostrategisch von Vorteil. Ankara kann so öffentlichen Druck und Einfluss entfalten – auch in muslimisch bevölkerten Ländern, deren Führungen keine enge Beziehung zur Türkei pflegen.
Türkische Community in Deutschland als Zielgruppe der AKP
Dass er mit seiner agitatorischen Rhetorik Deutschland vor den Kopf stößt, nimmt Erdoğan ebenfalls bereitwillig in Kauf. Seit der Regierungsübernahme durch seine AKP im Jahr 2002 verfolgt die Türkei proaktiv das Ziel, türkische Einwanderercommunitys mental wieder stärker an die alte Heimat zu binden.
In diesen Kontext fiel beispielsweise Erdoğans Kölner Rede von 2008, in welcher er Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete. Die Türkei will damit begünstigen, dass Einwandererkinder, von denen mittlerweile viele akademische Ehren erworben haben und gut bezahlte Berufe ausüben, ihr Know-how in den türkischen Aufbau einbringen.
Dass es in den 2000er Jahren zu einem zunehmenden Mainstreaming islamophober Positionen in Deutschlands Politik und Medien gekommen ist, spielte Erdoğan dabei in die Hände. Gleiches gilt für die späte Entdeckung der NSU-Terrorzelle, die innerhalb der türkischen Community zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust gegenüber deutschen Sicherheitsbehörden führte.
So sehr die türkische Rhetorik gegen Israel antisemitische Züge offenbart, so uneinsichtig ist dort regelmäßig die Reaktion auf entsprechende Hinweise. Erdoğan selbst deutet in diesem Kontext immer wieder an, dass es Deutschland und Europa aufgrund ihrer eigenen rassistischen und kolonialistischen Geschichte nicht zustehe, Muslime zu belehren.
Erdoğan weiß: Die Türkei wird gebraucht
Aus mehreren Gründen kann sich Erdoğan dennoch sicher sein, dass allzu weitreichende Kritik aus dem offiziellen Berlin am Freitag ausbleiben wird. Sie alle haben damit zu tun, dass die Türkei auch für Deutschland ein zu wichtiger Partner ist, um sich tiefgreifende diplomatische Verstimmungen leisten zu können.
Ein Faktor ist dabei die Flüchtlingspolitik. Scholz hat erst jüngst angekündigt, eine harte Linie in Sachen Asyl fahren zu wollen. Die Antragszahlen sollen sinken, die Zahl der Abschiebungen soll steigen. Dafür muss mindestens der seit 2016 mit der Türkei bestehende Flüchtlingspakt aufrecht bleiben – und nach Möglichkeit erneuert werden. Dies gilt umso mehr, als noch kaum Rückführungsabkommen mit anderen Ländern bestehen.
Ein weiterer Punkt ist die Frage des NATO-Beitritts Schwedens. Das türkische Parlament hat darüber noch nicht abgestimmt – und ein „Nein“ würde die von Scholz angestrebte „Zeitenwende“-Politik empfindlich zurückwerfen.
Ankara als Gesprächskanal in Richtung Kreml
Daneben ist die Türkei in vielen weiteren Bereichen außenpolitisch unverzichtbar. Nach dem Bruch der EU und Deutschlands mit der Russischen Föderation ist es vor allem Ankara, das mit diplomatischen Initiativen an einigen Konfliktherden Chaos und Härten entgegenwirkt. Das betrifft das Getreideabkommen mit Russland und der Ukraine ebenso wie das Astana-Format für Syrien.
Die Türkei ist auch energiepolitisch ein wichtiger Faktor. Auch wenn sich Ankara durch seine Konfrontationspolitik gegenüber Israel selbst Chancen auf eine eigene Energiepartnerschaft im Mittelmeer vergeben sollte – es bleibt immer noch eine wichtige Drehscheibe für Europa. Mehrere Pipelineverbindungen, die Erdgas aus zentralasiatischen Staaten – und auch aus Russland selbst – in die EU transportieren sollen, verlaufen durch die Türkei.
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