Nachhilfe in Staatsbürgerkunde – So plant die EU die politische Bildung

„Das politische System der EU kann nicht funktionieren, wenn die Bürger es nicht kennen oder nicht verstehen“, heißt es in einem Bericht des Ausschusses für Kultur und Bildung der Europäischen Union, der am 5. April veröffentlicht wurde. Um dies zu ändern, soll die politische Bildung im Sinne der Europäischen Union nun in den einzelnen Mitgliedsstaaten verstärkt werden.
Titelbild
Eine Junge meldet sich im Unterricht.Foto: iStock
Von 18. April 2022

Der laufende Prozess der Globalisierung und der europäischen Integration erfordert, dass sich die neue Generation von Unionsbürgern zunehmend auf mehreren Ebenen politisch engagiert, erklärte der spanische EU-Parlamentarier Domènec Ruiz Devesa, als er am 5. April den Bericht des EU-Ausschusses für Kultur und Bildung vorstellte. Die neue Generation müsse in der Lage sein, „eine wachsende Vielfalt“ in ihr tägliches Leben zu integrieren, mit ihr zu leben und zu arbeiten. Schließlich habe jede Person das Recht „auf hochwertige und inklusive Bildung“, damit sie uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben könne.

In Zukunft soll politische Bildung im Sinne der EU nicht nur thematisiert, sondern konkret in den einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Übernehmen soll dies eine sogenannte „Europa-Lehrkraft“ entsprechend einem neuen EU-Bildungsplan.

Auf dem Weg zum Unionsbürger

In dem Bericht ist davon die Rede, dass eine „dynamische Unionsbürgerschaft“ entwickeln werden soll. Seit vielen Jahren gebe es jedoch Wissenslücken bei den Bürgern in Bezug auf die EU, auch eine emotionale Bindung zur EU konnte nicht aufgebaut werden – „bürgerfern und komplex“, das sei das Bild, was in den Köpfen der EU-Bürger verankert sei.

Aus diesem Grund gibt es eine neue Empfehlung, wonach die EU-Mitgliedsstaaten angeregt werden, die auf die EU bezogenen Inhalte in den Lehrplänen, auch in der beruflichen Bildung und Ausbildung, zu unterstützen, zu überprüfen und zu aktualisieren.

Alle Menschen, auch Migranten, Flüchtlinge, Gläubige und solche mit Migrationshintergrund, müssten in die Prozesse zum Aufbau einer „Bürgerschaft“ einbezogen werden. Es sei eine „wichtige Komponente des Weltbürgersinns“, wenn man die historischen und persönlichen Ursachen der Reise von Migranten, einschließlich des Kolonialismus, verstehe.

Die Schuljahre, in denen politische Bildung in den EU-Mitgliedsstaaten als eigenständiges Pflichtfach unterrichtet wird, reichen von einem bis zu zwölf Jahren.

Hessische Abgeordnete warnt vor politischer Indoktrination

Kritik am neuen EU-Bildungsplan gab es von der hessischen EU-Parlamentarierin Christine Anderson (Fraktion Identität und Demokratie). Sie fürchtet, dass Bürger unter dem Siegel der politischen Bildung indoktriniert würden.

„Aufgabe gewählter Repräsentanten in einer Demokratie ist es, den politischen Willen des Volkes umzusetzen und nicht dem Volk diktieren zu wollen, welchen Willen es zu haben hat“, so Anderson.

Vielmehr müsse Politik sich darauf beschränken, dem Bürger die zur Debatte stehenden verschiedenen Alternativen objektiv dazulegen, aus denen er sodann frei wählen könne. Aber hierin bestehe ein Problem, denn neben der „Brave-New-World-Agenda“ dürfe es eben keine Alternative geben.

Dabei nimmt Anderson Bezug auf die Wahl von Viktor Orbán, der in Ungarn mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt wurde, obwohl die EU ihm immer wieder Demokratiefeindlichkeit vorwirft.  „Wenn hier also jemand eklatante politische Bildungsmängel aufweist, dann sind Sie es, meine Damen und Herren“, sagte die EU-Abgeordnete.

Sie wirft anderen Parlamentariern „ein gestörtes Verhältnis zu Konzepten wie Volksherrschaft und staatlicher Souveränität freier, selbstbestimmter Völker“ vor, die Bürger als „dumme, ungezogene Kinder“ betrachten. In einer Demokratie jedoch seien Bürger freie, selbstbestimmte und mündige Entscheidungsträger, deren Willen die Politiker zu respektieren und umzusetzen hätten. „Alles andere wäre Diktatur“, so Anderson.

Qualitätssprung durch Sprachunterricht

Ganz anders äußerte sich der spanische Abgeordnete Pernando Barrena Arza für die EU-Fraktion Die Linke. Er zeigte sich mit dem Ergebnis des Berichts sehr zufrieden und betonte, dass es einen spezifischen Plan zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit in all ihren Formen brauche, mit besonderem Schwerpunkt auf Frauen, LGTBI-Personen und Minderheiten.

Zudem habe die EU auch Sprachen von Minderheiten im Blick, den Barrena als wichtigen Punkt hervorhob. Im Baskenland habe es beispielsweise bereits eine breite politische Einigung über den Bildungspakt gegeben. Dort werde Baskisch, eine Minderheitensprache, wieder in der Schule unterrichtet, wodurch Schüler und auch die Gesellschaft im Allgemeinen einen Qualitätssprung erfahren hätten. Indem Schüler Baskisch lernen, würde man der Trennung nach ihrer Herkunft und Verhältnissen ein Ende gesetzt.

Recht auf Bildung im Zeichen des Klimawandels

Loucas Fourlas, EU-Parlamentarier aus Zypern, äußerte, dass die Corona-Pandemie Spuren bei der neuen Generation hinterlassen habe. Es sei Aufgabe der EU, diese Generation dabei zu unterstützen, wieder auf die Beine zu kommen – mit den zur Verfügung stehenden Programmen im Rahmen einer politischen Bildung. Die Lehrpläne würden den Schülern dabei helfen, eine europäische Identität zu erlangen. „Jeder hat ein Recht auf Zugang zur Bildung“, so Fourlas.

Er verwies dabei auf eine Aussage von Robert Schumann, einem der Gründerväter der Europäischen Union. Dieser äußerte: „Europa braucht eine Seele, ein Ideal und den politischen Willen, diesem Ideal zu dienen.“

„Wir wollen junge Menschen mit politischem Willen und Visionen“, erklärte Fourlas. Diese jungen Menschen müssten bereit sein, sich sowohl dem digitalen als auch dem grünen Wandel und allen Herausforderungen stellen, vor denen Europa stehe.

Für eine „einzigartige demokratische Gemeinschaft“

Victor Negrescu, Sozialdemokrat aus Rumänien, setzt sich seit vielen Jahren als Europaabgeordneter und Lehrer für die Entwicklung der europäischen Bildung ein. In seinen Augen ist es an der Zeit, das Gefühl der Zugehörigkeit „zu dieser einzigartigen demokratischen Gemeinschaft“ – der EU – zu stärken. Dafür sei ein gemeinsamer Lehrplan notwendig, nach dem in allen EU-Mitgliedsstaaten die Lehrkräfte geschult werden, mit angemessenen Ressourcen und entsprechender Finanzierung.

Einbezogen werden sollen auch Institutionen und Organisationen, die einen Beitrag zur Entwicklung der politischen Bildung leisten. Aufgabe der EU sei es, dafür Strukturen zu schaffen. Mit Blick auf die Lage in der Ukraine habe man gemerkt, wie wichtig die Vermittlung der „europäischen Werte“ Demokratie, Solidarität und Vielfalt sei, äußerte der spanische Parlamentarier Marcos Ros Sempere.

Die politische Bildung sei das wichtigste Instrument, um die Zukunft der Europäischen Union aufzubauen.  In einer Zeit, in der der Klimawandel unsere Existenz bedrohe, müsse die politische Bildung eine Schlüsselrolle spielen, so Ros.

Naturwissenschaft nicht ausreichend

Der slowakische EU-Parlamentarier Peter Pollák erklärte, dass es nicht ausreiche, nur Mathematik oder Physik zu unterrichten. Was den jungen Menschen fehle, sei politische Bildung. Mehr als zehn Jahre habe er mit jungen Menschen gearbeitet und bis vor Kurzem in hunderten Klassenzimmern in der Slowakei mit Schülern über Extremismus gesprochen. Man habe vergessen, dass junge Menschen durch Fehlinformationen, Lügen sowie Nationalismus und Faschismus, die heute auf dem Vormarsch sind, gefährdet seien.

Er forderte daher dringend systematische Maßnahmen, die neben Physik, Mathematik und Chemie den jungen Leuten beibringen, „die Wahrheit zu erkennen und sich gegen Lügen, Desinformation, Populismus und Faschismus zu wehren“.

Einmischung in Lehrpläne verletzt Souveränität

Die polnische Abgeordnete Elżbieta Kruk wandte sich im Namen der ECR-Fraktion hingegen ausdrücklich gegen eine Einmischung in die Bildung der EU-Staaten. Gerade Vielfalt sei der grundlegende Wert der Europäischen Union. Dazu gehöre auch die Vielfalt der Bildungssysteme. Wie man die politische Bildung umsetze, sei Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten.

„Lehrpläne oder Lehrstunden harmonisieren zu wollen, verletzt die Souveränität der Mitgliedsstaaten“, so Kruk. Die vorgeschlagene Aufteilung der Zuständigkeit im Bildungsbereich bezeichnete sie als „inakzeptabel“.

Mit dem Erschließungsantrag des EU-Ausschusses für Kultur und Bildung, der mit großer Mehrheit seiner Mitglieder angenommen wurde, soll ein gemeinsamer Rahmen für die politische Bildung von Lehrkräften und Schülern umgesetzt werden, um die „Schlüsselkompetenz ‚Bürgerschaft‘“ zu entwickeln. Demnach soll die Ausbildung zu EU-Themen für Lehrkräfte, Bildungspersonal, Jugendbetreuer und –ausbilder nicht nur qualitativ hochwertig sein, sondern auch während ihrer Arbeitszeiten gefördert werden. Konkret wird die Schaffung und Förderung einer Auszeichnung als „Europa-Lehrkraft“ in den EU-Mitgliedsstaaten gefordert.

Nach Aussage der EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, werden Schulen und Berufsbildungseinrichtungen in der gesamten EU spezifische Mittel erhalten, um neue Wege für den Unterricht rund um die EU zu entwickeln. Das zeige, wie ernst das Thema seitens der EU betrachtet werde. Dazu gebe es noch eine Vielzahl von Initiativen der Europäischen Kommission und anderer EU-Institutionen, um Lehrer und Schulen bei der Vermittlung einer „soliden europäischen staatsbürgerlichen Erziehung zu unterstützen“, beispielsweise die EU-Lernecke auf der EU-Website, das Portal für Schulbildung sowie das Projekt Botschafterschule des Europäischen Parlaments.



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