Politischer Schachzug: Orbán befragt Bevölkerung zu EU-Sanktionen gegen Russland

Orbáns Partei zufolge hat noch niemand in der EU die Bürger über die Brüsseler Sanktionen befragt. Die ungarische Regierung sei die erste, die das tue. Die Meinungsumfrage soll in Brüssel als „politisches Instrument“ in den Händen der ungarischen Regierung dienen.
Titelbild
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bei einer Rede zum Gedenken an den 66. Jahrestag des ungarischen Aufstands gegen die sowjetische Besatzung.Foto: ATTILA KISBENEDEK/AFP via Getty Images
Von 28. Oktober 2022


Zum zwölften Mal erhält jeder Bürger in Ungarn im Rahmen der großen nationalen Umfrage („Nemzeti Konzultáció“) ein Päckchen mit einem persönlichen Brief des Ministerpräsidenten. Darin bezeichnet Orbán die Bürger als „Landsmänner“. Orbán hat die Befragung bereits früher als eine mächtige Waffe in Brüssel angekündigt. Sie soll die Zustimmung der Bevölkerung zu den Russland-Sanktionen abbilden und als mögliches Beispiel für andere EU-Länder dienen.

Das Schreiben wirkt hochwertig. Es trägt das goldene Staatswappen und ist von Viktor Orbán persönlich unterzeichnet. Der Brief enthält zudem einen Fragebogen mit sieben Fragen, die sich in einem Falzbogen öffnen, mit einer kurzen Erklärung zu jeder Frage und kleinen Abstimmungsquadrate für die Ja/Nein-Antworten. Auf der Verpackung prangt als Zeichen der Solidarität die Nationalflagge. Der Fragebogen beginnt mit der Aufforderung: „Sagen Sie Ihre Meinung“.

Auf der Pressekonferenz zur Fraktionssitzung am Donnerstag, 22. September, hatte der Fraktionsvorsitzende der Fidesz-Partei, Máté Kocsis, die „Nationale Konsultation“ (Meinungsumfrage in Ungarn) angekündigt. Sie sei aktuell das wichtigste Instrument, mit dem man die Aufhebung der Brüsseler Sanktionen aus Ungarn unterstützen kann. „Die Meinung des Volkes muss eingeholt werden“, sagte er.

Kocsis betonte, dass noch niemand in der EU die Bürger über die Sanktionen befragt habe. Die ungarische Regierung sei die erste, die das tue. Die europäischen Politiker müssten davon überzeugt werden, dass diese Sanktionen aufgehoben werden müssten. Solche Meinungsumfragen seien das „politische Instrument“ dazu.

Auf Grundlage der Ergebnisse könne die Regierung wenn nötig sogar eine parlamentarische Entscheidung treffen, sagte er.

„Wir glauben, dass uns die Brüsseler Sanktionen ruinieren“

In den Fragebögen, die gerade bei den Bürgern ankamen, heißt es laut Facebook-Seite der Regierung: „Wir glauben, dass uns die Brüsseler Sanktionen ruinieren.“

Der Fragebogen, der auch online ausgefüllt werden kann, enthält die folgenden Fragen:

• Sind Sie mit den Öl-Sanktionen durch Brüssel einverstanden?
• Sind Sie mit den Sanktionen für Gaslieferungen einverstanden?
• Sind Sie mit den Sanktionen für Rohstoffe einverstanden?
• Sind Sie mit den Sanktionen gegen Kernbrennstoffe einverstanden?
• Sind Sie auch der Meinung, dass die Investition der Paks (Atomkraftwerk) unter die Sanktionen fallen sollte?
• Sind Sie mit den Sanktionen, die den Tourismus betreffen, einverstanden?
• Sind Sie mit den Sanktionen einverstanden, die die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben?

Umfrage hat sich bereits bei Migrationsthematik bewährt

Die Orbán-Regierung betrachtet die Beteiligung der Bürger an der Vorbereitung von Entscheidungen durch Fragebögen als ein wirksames und unverzichtbares Instrument.

Eine ähnliche Befragung zum Thema Einwanderung und Terrorismus, die im Mai 2015 zu einer Zeit der Migrationskrise in Europa stattfand, sei laut „Magyar Nemzet“ ein Erfolg gewesen. „Damals nahmen 1,254 Millionen Menschen an der Umfrage teil. Die große Mehrheit der Befragten unterstützte die Haltung der Regierung, die sich für das nationale Interesse und gegen die Politik Brüssels einsetzt“, so „Magyar Nemzet“.

Gegenwind – Hitzige Debatten über die mit Milliarden HUF dotierten Briefe

Die Opposition kritisiert vor allem die Kosten des Fragebogens. So geht aus einem Artikel der analytischen Website „Lakmusz.hu“ hervor, dass die Konsultationen in den letzten zwölf Jahren insgesamt fast 48 Milliarden HUF (circa 117 Millionen Euro) gekostet haben.

Nach den von der Website zitierten offiziellen Quellen kostete beispielsweise der Fragebogen zu den Pandemiemaßnahmen die Regierung 11.500.000 HUF (ca. 27.000 EUR), und die Zahl der Befragten betrug in diesem Fall 1,682 Millionen von circa 8 Millionen. Die Kosten pro Befragtem belaufen sich in diesem Fall nach Berechnungen der Zeitung auf 6.837 HUF (etwa 16 Euro).

In den letzten sieben Jahren lagen die durchschnittlichen Kosten pro Befragtem laut den von „Lakmusz.hu“ veröffentlichten Daten bei 4.825 HUF (ca. 11 Euro). Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Brief mit einem Höchstgewicht von etwa 50 Gramm kostet in Ungarn heute 474 HUF (etwa 1,10 Euro).

Kritiker: „Die Fragen deuten auf falsches Dilemma hin“

Abgesehen von den Finanzen rührt die Kritik vor allem daher, dass die Stellungnahmen nicht verbindlich seien. Es handele sich in Wirklichkeit nur um „Meinungsumfragen“.

Die Ergebnisse der nationalen Befragung hätten in den Händen von Viktor Orbán nur eine politische und kommunikative Bedeutung. Rechtlich gesehen seien sie weder für die ungarische Regierung noch für Brüssel bindend, schreibt der „Lakmusz.hu“-Analyst.

Darüber hinaus sind die Hauptkritikpunkte: Die Fragebögen seien in der Regel „negativ gefärbt“. Sie suggerierten die „richtige“ Antwort im Voraus. Sie gäben keine Alternativen vor. Analysen über den aktuellen Inhalt, die Ausfüllquoten sowie die Kosten der Fragebögen werden im Dezember erwartet.

Orbán: Sanktionen nicht demokratisch eingeführt

Ministerpräsident Orbán verteidigte die Maßnahme. Das ungarische Volk habe das Recht, befragt zu werden, da die Sanktionen nicht demokratisch eingeführt wurden. „Die europäischen Eliten haben darüber entschieden und die Menschen wurden nicht gefragt“, zitierte ihn die Zeitung „Mandiner“.

Die Position der ungarischen Regierung zur Brüsseler Sanktionspolitik spiegelt sich im jetzigen Fragebogen deutlich wider.

Obwohl Ungarn allen EU-Sanktionspaketen zugestimmt hat, um im Gegenzug Befreiungen im Energiebereich und andere wichtige Ausnahmen zu erhalten, hat der Ministerpräsident die westlichen Sanktionen in den letzten Monaten scharf kritisiert.

In der ersten Herbstsitzung des ungarischen Parlaments Ende September sagte Orbán, Brüssel habe sich mit den Sanktionen „selbst ins Bein geschossen“. Der Preis für die Sanktionen werde von Familien in ganz Europa über ihre Energierechnungen bezahlt, zitierte ihn „Mandiner“.



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