Pulverfass Mittelmeer? In Libyen droht Stellvertreterkrieg zwischen Türkei und Griechenland

Erdgas, Libyen, Flüchtlinge: Gleich mehrere Akteure und Anrainer sind derzeit in komplizierte Konflikte im Mittelmeer verwickelt. Vor allem zwischen der Türkei und Griechenland verstärken sich die Spannungen. Athen soll nun Kontakt zur Regierung Haftar geknüpft haben.
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Das türkische Bohrschiff "Yavuz".Foto: BULENT KILIC/AFP über Getty Images
Von 15. Juni 2020

Das Mittelmeer ist nicht nur als notorischer Schauplatz von Migrationsbewegungen zu Wasser ein Brennpunkt – und je mehr die Corona-Krise abklingt, umso stärker machen diese sich wieder bemerkbar. Die Lage wird umso komplexer, als sich derzeit ein komplizierter und vielschichtiger geostrategischer Großkonflikt in der gesamten Region abspielt, der von der EU über die Türkei, Russland, Israel und arabische Golfstaaten bis zu den USA unterschiedlichste Akteure involviert.

Ein mehrköpfiges Team der „Welt“-Redaktion hat in einem umfangreichen Beitrag versucht, die einzelnen Komponenten und Akteure des Konflikts zu ordnen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Das Nahost-Analyseportal „Al-Monitor“ hat zudem eine Verbesserung der lange Zeit angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und den USA diagnostiziert und dargestellt, wie sich dies beispielsweise in der Libyen-Politik niederschlägt.

Vergleiche drängen sich auf mit dem „Great Game“ zwischen dem russischen Zaren und dem britischen Empire im Zentralasien des 19. Jahrhunderts.

Ankara lehnt Pipeline-Projekt mit Beteiligung Zyperns ab

Einer der wesentlichsten Aspekte des drohenden Großkonflikts im Mittelmeer ist die Frage der Erdgasreservoirs, die sich noch unerschlossen im östlichen Teil davon verbergen. Griechenland, Zypern und Israel beabsichtigen, sich die Vorkommen im Wege der von ihnen geplanten EastMed-Pipeline nutzbar zu machen.

Die Türkei sieht in diesem Vorhaben eine Provokation. Ankara spricht sich insbesondere strikt gegen eine Beteiligung Zyperns aus, solange es noch nicht zu einer einvernehmlichen Lösung hinsichtlich einer Wiedervereinigung der seit 1974 geteilten Insel gekommen sei.

Als 1974 die griechische Militärjunta die Regierung von Erzbischof Makarios III. durch einen Putsch absetzte und eine Annexion der Insel anstrebte, befahl der damalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit einen Einmarsch der Armee in den mehrheitlich türkisch besiedelten Norden der Insel. Zuvor hatte es mehrere Massaker griechischer Ultranationalisten an türkischen Einwohnern der Insel gegeben.

Türkei beginnt selbst im östlichen Mittelmeer zu bohren

Mit der Türkischen Republik Nordzypern wurde in weiterer Folge ein Protostaat ausgerufen, der bis heute nur von Ankara anerkannt wird. Seit 2015 wird zwischen den Konfliktparteien in beiden Teilen Zyperns sowie den Schutzmächten Griechenland und Türkei selbst über eine mögliche Beilegung und Wiedervereinigung der Insel verhandelt.

Derzeit ist der Verhandlungsprozess jedoch unterbrochen – und der Hauptgrund sind die Ambitionen Griechenlands und Südzyperns, Erdgasbohrungen im östlichen Mittelmeer ohne Beteiligung des Nordens der Insel aufzunehmen.

Die Lage zwischen Griechenland und der Türkei drohte seither mehrfach zu eskalieren. Zwischenfälle mit Militärjets und Booten, die einander gefährlich nahe kommen, haben sich in den vergangenen Jahren gehäuft. Seit die Türkei eigene Schiffe mobilisierte, um nach Erdgas zu bohren, hat sich auch die EU eingeschaltet und sich an die Seite ihrer Mitgliedstaaten gestellt.

Noch im Juli 2019 kürzte die EU zugesagte Finanzmittel an die Türkei und kündigte ein Luftfahrtabkommen. Im Februar 2020 wurden gegen zwei Beteiligte an den Bohrungen sogar Sanktionen verhängt.

Abkommen mit Libyen gibt Erdoğan Rückendeckung

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan antwortete darauf auf seine Weise. In den Wochen, bevor die Corona-Pandemie den Konflikt bis auf Weiteres zum Stillstand brachte, sorgte er mit der Stand-Down-Order an seinen Grenzschutz für eine massive Ausweitung des Flüchtlingszustroms in Richtung EU.

Zugleich vereinbarte er mit der international anerkannten Regierung von Premierminister Fajis al-Sarradsch in Libyen ein Seerechtsabkommen, das den Festlandsockel der Türkei in einer Weise definierte, dass sich Ankara hinsichtlich seiner Bohrungen im östlichen Mittelmeer auf dieses Dokument stützen konnte.

Zudem ist mit der Anerkennung der türkischen Seegrenze im libysch-türkischen Abkommen auch ein Ansatz für die Türkei gegeben, um seine Kriegsmarine auch südlich von Kreta einzusetzen und in deren Schutz nach Bodenschätzen zu forschen. Griechenland akzeptiert diese Position nicht und betrachtet diesen Bereich als Teil seiner eigenen Wirtschaftszone.

Am 15. Mai forderte Brüssel die Türkei dazu auf, mit Blick auf Zypern „Drohungen zu unterlassen und nichts zu unternehmen, das gut-nachbarschaftlichen Beziehungen schadet“. Zyperns Präsident Nikos Anastasiades hofft nun auf Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und darauf, dass es ihr gelingen würde, die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft zur Vermittlung zwischen Nikosia und Ankara zu nutzen.

Sieg Haftars wäre Prestigeerfolg für Putin und Blamage für Merkel

Eine allzu nassforsche Gangart gegenüber Erdoğan dürfte von Merkel allerdings aus mehreren Gründen nicht zu erwarten sein. Einer davon ist das EU-Flüchtlingsabkommen als Druckmittel Ankaras, ein anderer die Situation in Libyen, wo ohne Rückendeckung durch die Türkei mit einer zeitnahen Entscheidung im Konflikt zwischen der Regierung al-Sarradsch und dem von Russland, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten General Chalifa Haftar zu rechnen wäre.

Diese Entscheidung würde aber angesichts der Kräfteverhältnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Lasten der international anerkannten Regierung in Tripolis ausfallen.

Eine solche Entwicklung wäre nicht nur ein enormer Prestigeerfolg für Russland und Präsident Wladimir Putin, sie käme auch einer Blamage für Merkel selbst gleich, nachdem die deutsche Regierung sich selbst noch Anfang des Jahres hoffnungsvoll gezeigt hatte, zusammen mit den europäischen Partnern eine multilaterale Lösung für den Libyen-Konflikt erreichen zu können.

Immerhin hat auch US-Präsident Donald Trump in einem Telefongespräch in der Vorwoche Erdoğan seine Solidarität im Bereich der Libyen-Politik zum Ausdruck gebracht. Auch die USA haben kein Interesse an einer Lösung in Libyen, an deren Ende ein Regime steht, das von Moskau aus ferngesteuert wird – und auf das unter noch ungünstigeren Umständen auch noch der Iran oder China Einfluss entfalten könnten.

Wie Erdoğan beharrt auch Trump darauf, dass die Konfliktparteien in Libyen ihre Differenzen auf dem Verhandlungstisch bereinigen.

Griechenland schließt eigenes Seegrenzen-Abkommen ab

Es bleibt abzuwarten, wie sich der türkisch-griechische Konflikt in den kommenden Monaten entwickeln wird. Aus Athen kommen gemischte Signale: Premier Kyriakos Mitsotakis deutet Gesprächsbereitschaft an, Verteidigungsminister Nikolaos Panagiotopoulos lässt die Marine üben und droht dem NATO-Partner an, notfalls militärisch auf Bohrversuche vor Kreta zu reagieren. Frankreich hat den Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ Ins östliche Mittelmeer beordert.

Zugleich unterzeichnete Athen jüngst ein eigenes Seegrenzen-Abkommen mit Italien und knüpfte – so die „Welt“ – Kontakte zur Haftar-Regierung in Tobruk. Im Extremfall könnten Ankara und Athen perspektivisch in einen Stellvertreterkrieg an der nordafrikanischen Küste verwickelt werden.



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