Chile: Linksradikaler Verfassungsentwurf in Volksabstimmung mit 62 Prozent abgelehnt

Große Hoffnungen hatte die Linke – weit über Lateinamerika hinaus – in das Referendum über eine neue Verfassung in Chile gesetzt. Deutlicher als erwartet sprachen sich die Stimmberechtigten am vergangenen Sonntag jedoch gegen den Entwurf aus, der zur Abstimmung stand.
Ein Mann gibt in Santiago seinen Stimmzettel in einem Wahllokal ab.
Ein Mann gibt in Santiago, Chile, seinen Stimmzettel in einem Wahllokal ab.Foto: Luis Hidalgo/AP/dpa
Von 7. September 2022

„Mit der neuen Verfassung sollten soziale Rechte eingeführt, feministische Grundsätze in den Aufbau des Staates übernommen und das Land in einen plurinationalen Staat verwandelt werden“, schreibt das linke deutschsprachige Nachrichtenportal „Amerika 21“ in seiner Analyse zum Verfassungsreferendum in Chile. „All dies ist nun auf vorerst vorbei.“ Den Sieg über den „Kommunismus“ und eine „fanatische, ideologische Linke“ feiern hingegen die Gegner des Entwurfes, der am Sonntag (4.9.) zur Abstimmung stand.

„Grab des Neoliberalismus“ bleibt unausgehoben

Am Tag der Abstimmung verwarfen die per Wahlpflicht an die Urne gerufenen Bürger des Landes mit fast 62 Prozent der Stimmen den von der Verfassungsgebenden Versammlung vorgelegten Entwurf. In allen Regionen des Landes, sogar in der Metropolregion von Santiago, stimmten mindestens 55 Prozent der Wähler mit „Nein“. Zustimmung fand die Vorlage landesweit nur in einer Handvoll Einzelbezirke und bei den Auslandschilenen.

Das Referendum war erforderlich geworden, nachdem sich der damalige Präsident Sebastián Piñera unter dem Eindruck teils gewalttätiger Massenproteste im Herbst des Jahres 2019 genötigt gesehen hatte, eine Abstimmung über die grundsätzliche Notwendigkeit einer neuen Verfassung anzuberaumen. Die derzeit in Kraft befindliche stammt noch aus dem Jahr 1980, als General Augusto Pinochet das Land autoritär regierte.

Die Linke sah in der Konzeption einer neuen Verfassung die Chance, Chile zum „Grab des Neoliberalismus“ zu machen, wie es der 2021 in einer Stichwahl gegen einen weit rechten Gegenkandidaten gewählte linksradikale Präsident Gabriel Boric formuliert hatte.

Chiles derzeitige Verfassung seit 1980 in Geltung

Im Jahr 2020 stimmten schließlich fast 80 Prozent der Wähler dafür, eine Verfassungsgebende Versammlung einzusetzen, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollte – bei allerdings nur knapp über 50 Prozent Wahlbeteiligung.

Diese sollte neun Monate Zeit bekommen, um einen Entwurf auszuarbeiten, sowie eine einmalige Verlängerungsoption von drei Monaten. Mache sie von dieser nicht Gebrauch, solle der Entwurf dem Volk vorgelegt werden.

Das Endprodukt umfasste 388 Artikel – und je deutlicher zutage trat, wie radikal eine Vielzahl an Inhalten sein würde, umso stärker bröckelte die öffentliche Zustimmung. Während Umfragen zufolge noch im Februar des Jahres 55 Prozent der Befragten angaben, für den Verfassungsentwurf stimmen zu wollen, sank dieser Anteil rasch deutlich ab und seit Mitte April 2022 lagen die Gegner mit wachsendem Abstand voran.

Vorbild für mögliche europäische Verfassung?

Die Befürworter des Entwurfs stellten diesen als ausgewogenen Kompromiss dar, der den Standard eines modernen liberalen Verfassungsverständnisses widerspiegele, wie es auch in Europa oder Ländern wie Kanada oder Neuseeland konsensfähig wäre.

Die Marktwirtschaft als solche würde bestehen bleiben, jedoch würde die Verfassung verbindliche soziale Rechte einführen. An die Stelle des Senats würde eine Länderkammer nach deutschem Vorbild treten, Geschlechterdiskriminierung würde verboten und eine verbindliche Frauenquote für öffentliche Ämter eingeführt werden.

Zudem sollten staatliche Systeme für Gesundheit und Bildung eingeführt werden, um den Zugang dazu zu verbessern. Chile sollte zudem als „plurinationale und paritäre Republik“ definiert werden, was vor allem die Rechte indigener Gruppen ausweiten und diesen sogar das Recht auf Reparationen verbriefen sollte.

Linksideologische Positionen im Kleingedruckten der angestrebten Verfassung

Eine genauere Betrachtung machte jedoch deutlich, dass sich darüber hinaus eine Vielzahl ideologischer Tretminen im Text des Verfassungsentwurfes wiederfanden – vom „Recht auf Abtreibung“ über jenes auf Anerkennung der selbstgewählten Genderidentität bis hin zum Auftrag an den Staat, Gesetze zu erlassen, die zur „Überwindung von Geschlechterstereotypen“ führen sollen.

Andere Bestimmungen sollten etwa ein universelles „Recht auf Arbeit“ festschreiben, wie es schon in der DDR verankert war, oder weitreichende Ansprüche auf staatliche Gesundheitsversorgung – in beiden Fällen wäre eine erhebliche Ausweitung der Steuerlast unausweichlich.

Präsident Boric selbst erklärte am Abend der Abstimmung, der Wähler verlange „mehr Einsatz, mehr Dialog, mehr Respekt und Zuneigung“, um einen Vorschlag zu erarbeiten, der „uns alle berücksichtigt, der Vertrauen gibt, der uns als Land vereint“. Gleichzeitig erteilte er „Maximalforderungen sowie Gewalt und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden“ eine Absage.

Die Regierung hatte seit Juli erklärt, im Falle einer Ablehnung erneut Wahlen einzuberufen, um einen neuen Verfassungskonvent zu bilden. Dieser solle einen neuen Entwurf ausarbeiten.



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