Raketen über Kiew – Geländegewinne bei Sjewjerodonezk
Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist am Sonntagmorgen erneut aus der Luft angegriffen worden – es waren Sirenen des Luftalarms und Explosionen zu hören.
Nach offiziellen Angaben schoss die ukrainische Luftabwehr russische Raketen über der Stadt jedoch ab. „Im Stadtbezirk Wyschhorod waren heute Morgen Explosionen zu hören. Die Luftabwehr hat feindliche Flugziele beschossen“, teilte der Militärgouverneur des Gebiets Kiew, Olexij Kuleba, am Sonntag auf seinem Telegram-Kanal mit.
Die Lage in Kiew
Seinen Angaben zufolge gab es keine Schäden und keine Verletzten in der Stadt. Er bat die Kiewer allerdings darum, weiterhin nach dem Luftalarm die Schutzkeller aufzusuchen. In verschiedenen sozialen Netzwerken tauchten später Fotos auf, die Spuren einer Rakete am Himmel über dem Gebiet Kiew zeigen sollen.
Russische Truppen haben Kiew seit Kriegsbeginn mehrfach unter Beschuss genommen. Zu Beginn der Invasion versuchten russische Boden- und Luftlandetruppen auch, die ukrainische Hauptstadt zu erobern, wurden aber zurückgeschlagen. Später hat Moskau seine Truppen aus dem Gebiet um Kiew zurückgezogen. Mit Raketen ist die Stadt aber von russischem Gebiet aus immer noch zu erreichen.
So schlug unter anderem während des Besuchs von UN-Generalsekretär António Guterres Ende April eine Rakete in einem Wohnhaus im Zentrum von Kiew ein. Bei der Kiew-Visite von Bundeskanzler Olaf Scholz am Donnerstag gab es gleich zweimal Luftalarm, ein Einschlag wurde aber nicht gemeldet.
Fahnenflucht wohl auch Problem aufseiten der Ukraine
Die intensiven Gefechte im Donbass setzen nach Einschätzung britischer Geheimdienstexperten der Kampfmoral der Truppen beider Seiten im Ukraine-Krieg zu. „Ukrainische Kräfte haben wahrscheinlich in den vergangenen Wochen unter Desertionen gelitten, allerdings ist höchstwahrscheinlich insbesondere die russische Moral weiterhin mit Problemen belastet“, hieß es in dem täglichen Geheimdienst-Update zum Ukraine-Krieg des Verteidigungsministeriums in London. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine vor rund vier Monaten hatte es immer wieder Berichte über russische Soldaten gegeben, die Fahnenflucht begingen.
„Es gibt weiterhin Fälle, in denen gesamte russische Einheiten Befehle verweigern, und es kommt weiterhin zu bewaffneten Konfrontationen zwischen Offizieren und Soldaten“ so die Mitteilung weiter. Hintergrund für die niedrige russische Moral seien unter anderem eine als schlecht wahrgenommene Führung, begrenzte Möglichkeiten zur Ablösung von der Front, sehr schwere Verluste, Stress, schlechte Logistik und Probleme mit der Bezahlung.
Beide Seiten setzten den Briten zufolge in den vergangenen Tagen ihre schweren Artilleriebeschüsse auf den Achsen nördlich, östlich und südlich des Kessels von Sjewjerodonezk im Osten des Landes fort. Die Frontlinie habe sich aber kaum verändert.
Russische Truppen: Geländegewinne bei Sjewjerodonezk
In dem erbitterten Kampf um die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk haben russische Truppen Geländegewinne erzielt und sind in einen Vorort eingedrungen. „Durch Beschuss und die Erstürmung hat der Feind in der Ortschaft Metjolkine einen Teilerfolg erzielt und versucht sich dort festzusetzen“, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit.
Das große Dorf Metjolkine liegt südöstlich von Sjewjerodonezk. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow hatte zuvor erklärt, russische Kräfte hätten die Ortschaft vollständig eingenommen. Die russischen Streitkräfte setzen in der Ukraine mehrere Einheiten aus Tschetschenien mit Tausenden Bewaffneten ein. In Metjolkine seien Offiziere und Soldaten des ukrainischen Bataillons Ajdar freiwillig in Gefangenschaft gegangen, meldete die russische Agentur Tass unter Berufung auf die prorussischen Separatisten der Volksrepublik Luhansk. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Russische Truppen haben das weitgehend zerstörte Sjewjerodonezk immer noch nicht unter Kontrolle. Allerdings wird die Lage immer prekärer für ukrainische Zivilisten, die Zuflucht im örtlichen Chemiewerk Azot gesucht haben. Sie wollten aber nicht evakuiert werden, sagte der Gouverneur des Gebietes Luhansk, Serhij Hajdaj.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte unterdessen, mithilfe weiterer Waffenlieferungen aus dem Westen werde die Ukraine die russischen Truppen wieder aus dem Donbass vertreiben können.
568 Zivilisten suchen Schutz in Chemiewerk
In dem Werk Azot hätten 568 Zivilisten Schutz gesucht, darunter 38 Kinder, sagte Hajdaj. „Es gibt ständigen Kontakt zu ihnen. Man hat ihnen mehrfach eine Evakuierung angeboten, aber sie wollen nicht.“ Der Ort sei nicht mit dem Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol zu vergleichen. „Das ist keine unterirdische Stadt. Das sind einzelne Notunterkünfte, die getrennt, nicht untereinander verbunden sind.“ In einem Bunkersystem unter dem Stahlwerk Azovstal hatten ukrainische Verteidiger und Zivilisten noch wochenlang ausgeharrt, als Mariupol schon längst von russischen Truppen erobert war.
Die russische Seite hatte für Mittwoch die Schaffung eines humanitären Korridors angekündigt, durch den Zivilpersonen aus dem Chemiewerk auf russisch kontrolliertes Gebiet fliehen sollten. Allerdings misstrauten die Ukrainer den russischen Zusagen. Die Russen wiederum warfen ukrainischen Soldaten vor, Zivilisten mit Gewalt an der Flucht zu hindern.
Russland schickt Reserven in den Kampf
Russland werfe alle seine Reserven in den Kampf, um Sjewjerodonezk und die Stadt Bachmut zu erobern, sagte Hajdaj zur militärischen Lage im Donbass. Auch nach Angaben des Generalstabs gehen die Kämpfe um Sjewjerodonezk unvermindert weiter. Demnach beschossen russische Truppen das Verwaltungszentrum des Gebiets Luhansk mit schwerer Artillerie. Ein versuchter Sturm der ukrainischen Stellungen im Industriegebiet der Stadt sei aber gescheitert. Auch in Syrotyne, einem Dorf westlich von Metjolkine, blieben die russischen Sturmversuche erfolglos.
Russische Truppen setzten auch im Gebiet Charkiw gegen eine Reihe von Ortschaften Artillerie ein. In Richtung Slowjansk versuche der Feind durch den Einsatz schwerer Waffen günstige Voraussetzungen für eine Offensive zu schaffen, heißt es in dem Lagebericht. Gleichzeitig betonte die ukrainische Militärführung, dass russische Versuche, gewaltsame Aufklärung im Gebiet Krasnopillja zu betreiben, mit hohen Verlusten für die Angreifer endeten. Der russische Vormarsch auf den Raum Slowjansk-Kramatorsk, in dem das Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte im Donbass liegt, stockt damit weiterhin.
Russische Raketen zerstören Öltanks
Mit einem Raketenangriff zerstörten russische Truppen am Samstag Öltanks nahe der zentralukrainischen Stadt Dnipro. Die regionale Verwaltung berichtete von drei Raketen, die das Depot im Kreis Nowomoskowsk getroffen hätten. „Es gibt ein starkes Feuer“, teilte der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, mit. Elf Menschen seien verletzt worden. In der Nähe der Stadt Isjum trafen russische Raketen eine Fabrik, die Gas verarbeitet. Auch dort gab es einen großen Brand.
Nach einer Reihe internationaler Treffen in Kiew besuchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag wieder die Front. Er war im Süden zunächst in Mykolajiw, später in Odessa. Der ukrainische Präsident war zuvor bereits an der Front im Osten mit Stationen in Charkiw, Saporischschja und im Donbass gewesen.
Selenskyj verspricht Rückeroberung der Südukraine
Nach seiner Rückkehr hat Selenskyj den bedrohten Regionen Schutz versprochen und die Rückeroberung der bereits von russischen Truppen besetzten Gebiete angekündigt. „Wir werden niemandem den Süden abgeben. Alles, was uns gehört, holen wir zurück“, sagte Selenskyj in einer Videoansprache in der Nacht. Die Ukraine werde dabei auch den sicheren Zugang zum Meer wiederherstellen, versicherte er.
In den Ukrainern stecke mehr Lebenswille als Russland Raketen habe, sagte Selenskyj. Die Ukraine werde alles tun, um die Lebensmittelexporte über die Häfen wieder aufzunehmen, sobald dies mit internationaler Hilfe sicher zu bewerkstelligen sei.
NATO-Chef rechnet mit langem Krieg
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rechnet mit einem jahrelangen Krieg in der Ukraine. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass er Jahre dauern könnte“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Deshalb dürfe man nicht nachlassen in der Unterstützung der Ukraine gegen Russland.
Die Kosten dafür seien hoch, weil die Militärhilfe teuer sei und die Preise für Energie und Lebensmittel steigen. Aber das sei kein Vergleich zu dem Preis, den die Ukraine jeden Tag mit vielen Menschenleben zahle, sagte Stoltenberg. Wenn man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht entschieden entgegentrete, „dann bezahlen wir einen viel höheren Preis“.
Der NATO-Chef erwartete, dass die Ukraine mithilfe weiterer Waffenlieferungen aus dem Westen die russischen Truppen wieder aus dem Donbass vertreiben kann. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer wehren sich mutig gegen die russischen Invasoren“, sagte er. Das westliche Verteidigungsbündnis werde nicht selbst in die Kämpfe eingreifen. Man habe als klares Signal an Moskau mit 40.000 Soldaten unter NATO-Kommando die eigene Verteidigung gestärkt. (dpa/mf)
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