Schottisches Wahlergebnis befeuert Unabhängigkeitsdebatte – SNP verfehlt knapp absolute Mehrheit

"Es ist der Wille des Landes": Schottlands Regierungschefin Sturgeon sieht sich von der Parlamentswahl in ihrem Unabhängigkeitskurs bestärkt. Das politische Endspiel um ein neues Referendum beginnt.
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Nicola Sturgeon (l), Erste Ministerin von Schottland und Vorsitzende der SNP, erhöht nach dem Wahlsieg umgehend den Druck auf die britische Regierung.Foto: Jane Barlow/PA Wire/dpa/dpa
Epoch Times9. Mai 2021

Die für die Unabhängigkeit Schottlands eintretende Partei der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon hat die mit Spannung verfolgte Regionalwahl gewonnen.

Laut dem am Samstagabend veröffentlichten Wahlergebnis errang die Schottische Nationalpartei (SNP) 64 Sitze und verpasste damit knapp die absolute Mehrheit (65 Sitze) im 129 Sitze zählenden Parlament. Die Grünen, die ebenfalls eine Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien anstreben, kommen auf acht Sitze.

Die SNP gewann damit zum vierten Mal in Folge die Regionalwahl in Schottland, verpasste aber ihr Ziel einer absolute Mehrheit. Ungeachtet dessen erklärte Sturgeon schon vor Verkündung des Wahlergebnisses mit Blick auf die Grünen, es bestehe „kein Zweifel, dass es in diesem schottischen Parlament eine Mehrheit für die Unabhängigkeit geben wird“.

Sturgeon: Johnson dürfe sich „Willen des schottischen Volkes“ nicht entgegenstellen

Die SNP-Chefin warnte den britischen Premierminister Boris Johnson, dieser dürfe sich dem „Willen des schottischen Volkes“ nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum nicht entgegenstellen. Es gebe für Johnson „einfach keine demokratische Rechtfertigung“ zu versuchen, „das Recht der Schotten zu blockieren, über unsere eigene Zukunft zu entscheiden“, sagte Sturgeon in einer Siegesrede im Fernsehen.

Sie setzt auf eine Mehrheit im Parlament für ein Referendum Ende 2023 und hofft, nach einem Austritt aus dem Vereinigten Königreich wieder der EU beitreten zu können.

Beim ersten Referendum im Jahr 2014 hatten sich noch 55 Prozent der Schotten gegen eine Loslösung von London ausgesprochen. Bei der Brexit-Abstimmung im Jahr 2016 votierten die Schotten aber mehrheitlich gegen den EU-Austritt. Danach gewann die Unabhängigkeitsbewegung erneut an Fahrt.

Schottischen Konservativen wurden zweitstärkste Partei,

Die schottischen Konservativen wurden mit 31 Mandaten zweitstärkste Partei, die schottische Labour-Partei gewann 22 Sitze, die Liberaldemokraten kamen auf vier. Im Vergleich zur vergangenen Regionalwahl 2016 gab es nur kleine Veränderungen. Sturgeons einst einflussreicher Amtsvorgänger Alex Salmond konnte mit seiner neu gegründeten Partei Alba keinen einzigen Sitz erringen.

Die Wahlen vom Donnerstag galten als wichtiger Stimmungstest. Es waren die ersten Kommunal- und Regionalwahlen nach dem Brexit und dem Beginn der Corona-Pandemie. Wegen der Hygiene-Maßnahmen dauerte die Stimmenauszählung zwei Tage.

Tories schlugen die oppositionelle Labour-Partei in mehreren Hochburgen

In den restlichen Regionen Großbritanniens schnitten Johnsons Konservative stark ab. Die Tories schlugen die oppositionelle Labour-Partei in mehreren Hochburgen, darunter der traditionell von der Labour-Partei dominierte Wahlkreis Hartlepool im Nordosten Englands. Johnson, dessen Partei offenbar von der erfolgreichen Corona-Impfkampagne profitieren konnte, bezeichnete das Wahlergebnis als „sehr ermutigend“.

Labour blieb allerdings stärkste Kraft im Regionalparlament von Wales (30 von 60 Mandaten) sowie im Gebiet Greater Manchester und gewann mehrere wichtige Bürgermeisterwahlen, unter anderem in Liverpool, wo die 47-jährige Joanne Anderson die erste schwarze Bürgermeisterin wird. Auch in London wurde Bürgermeister Sadiq Khan von der Labour-Partei für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Der seit 2016 regierende Bürgermeister gilt als erbitterter Gegner seines Vorgängers Johnson.

Dennoch setzt das Ergebnis Labour-Parteichef Keir Starmer unter Druck, der bei seiner Wahl zum Vorsitzenden vor einem Jahr versprochen hatte, die Partei wieder aufzubauen.

Nach der Wahl musste seine Stellvertreterin Angela Rayner ihren Posten räumen, einige Abgeordnete übten jedoch auch offen Kritik an Starmer. Starmer selbst erklärte, er sei „bitter enttäuscht“ von dem Wahlergebnis.

Johnson rief die schottische Regierungschefin zur Zusammenarbeit auf

Johnson rief die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon in einem Brief zur Zusammenarbeit auf und lud sie zu einem Treffen ein, an dem auch die Spitzen der anderen Landesteile Wales und Nordirland teilnehmen sollen.

„Es ist meine leidenschaftliche Überzeugung, dass den Interessen der Menschen im Vereinigten Königreich und besonders der Menschen in Schottland am besten geholfen ist, wenn wir zusammenarbeiten“, schrieb Johnson. Der Nutzen dieser Kooperation habe sich besonders in der Corona-Pandemie gezeigt. „Das ist Team Vereinigtes Königreich in Aktion“, betonte Johnson.

Johnson, der ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum ablehnt, bot Sturgeon nach der Wahl eine Zusammenarbeit an. „Ich bin überzeugt, dass den Interessen der Menschen im Vereinigten Königreich und insbesondere der Menschen in Schottland am besten gedient ist, wenn wir zusammenarbeiten“, erklärte er.

Johnson: Referendum „unverantwortlich und leichtsinnig“

In einem Interview im „Daily Telegraph“ hatte er sich kur zuvor erneut ablehnend zu einem möglichen Referendum geäußert: „Ich denke, dass ein Referendum im aktuellen Kontext unverantwortlich und leichtsinnig ist.“

Das Wahlergebnis gibt den Unabhängigkeitsbefürwortern im schottischen Parlament eine deutliche Mehrheit. Gemeinsam kommen die Schottische Nationalpartei (SNP) von Regierungschefin Sturgeon und die Grünen auf 72 Stimmen – die absolute Mehrheit liegt bei 65 Sitzen. Sturgeon will Schottland zurück in die EU führen. „Es ist der Wille des Landes“, sagte sie.

Ohne Zustimmung aus London, so die Meinung der meisten Experten, wäre ein Referendum aber nicht rechtens. Sturgeon kündigte bereits an, notfalls vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen.

„Angesichts dieses Ergebnisses gibt es keine demokratische Rechtfertigung für Boris Johnson oder irgendjemand anderen, das Recht der schottischen Bevölkerung, unsere Zukunft selbst zu wählen, zu blockieren“, sagte die Regierungschefin. Sollte London ein Referendum ablehnen, würde dies zeigen, dass die britische Regierung das Vereinigte Königreich „erstaunlicherweise nicht mehr als freiwillige Union der Nationen betrachtet“.

„Schottland ist in der Verfassungsfrage tatsächlich gespalten“

Experten sehen jedoch Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit auf Augenhöhe. „Die einzige sichere Schlussfolgerung, die man aus diesem Ergebnis ziehen kann, ist, dass Schottland in der Verfassungsfrage tatsächlich gespalten ist“, kommentierte der Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde.

2014 hatten 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Die Frage sei damit endgültig geklärt, betonen Unionsbefürworter seither. Doch die SNP vertritt den Standpunkt, dass sich mit dem Brexit die Bedingungen verändert hätten. Beim Brexit-Referendum 2016 hatte eine klare Mehrheit der Schotten für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt.

Mindestens genauso viel Raum wie der schottischen Parlamentswahl räumten Londoner Medien einem Machtkampf in der Labour-Partei ein. Nach einer herben Pleite bei den jüngsten Kommunalwahlen in England wurde Parteivize Angela Rayner übereinstimmenden Berichten zufolge von ihrem Amt als Generalsekretärin (Party Chair) entbunden, das sie in Personalunion bekleidet hatte. Die Wahlen galten als erster Stimmungstest nach dem Brexit. (dpa/afp)



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