Selenskyj: „Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk“
An Tag zwei des russischen Angriffs meldet die Ukraine Raketenbeschuss auf die Hauptstadt Kiew. Unter anderem wurde ein mehrstöckiges Wohnhaus getroffen, wie die Stadtverwaltung am Freitagmorgen mitteilte.
„Schreckliche russische Raketenangriffe auf Kiew“, twitterte Außenminister Dmytro Kuleba. Auch aus anderen Orten wie der Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine wurden Kämpfe und Angriffe gemeldet.
Der Minister zeigte sich trotz der massiven Angriffe demonstrativ optimistisch: „Die Ukraine hat dieses Übel besiegt und wird dieses besiegen.“ Kuleba forderte erneut schärfere Sanktionen gegen Russland und Kremlchef Wladimir Putin: „Stoppt Putin. Isoliert Russland. Trennt alle Verbindungen. Schmeißt Russland aus allem raus.“
Explosionen und Feuer in Kiew
Unter anderem wurde ein mehrstöckiges Wohnhaus auf dem Ostufer des Flusses Dnipro getroffen, in dem Feuer ausbrach. Dort seien Trümmer einer Rakete eingeschlagen, teilte die Stadtverwaltung auf Telegram mit. Drei Menschen seien verletzt worden. Dort sei es ukrainischen Kräften gelungen, einen russischen Flugapparat abzuschießen, schrieb ein Berater des ukrainischen Innenministers.
Bürgermeister Vitali Klitschko veröffentlichte im sozialen Netzwerk Telegram ein Video, das Brände in mehreren Etagen des Gebäudes zeigte. Feuerwehrleute waren vor Ort. Einer der Verletzten sei in einem kritischen Zustand, schrieb er.
Selenskyj bleibt in Kiew
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj organisiert nach eigenen Worten aus Kiew heraus den Widerstand gegen den Angriff russischer Truppen. „Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk“, sagte er in der Nacht auf Freitag in einer Videobotschaft.
Der 44-jährige Staatschef und frühere Fernsehkomiker trug ein braunes T-Shirt; gefilmt wurde er an einem nicht identifizierbaren Ort. Bewohner von Kiew berichteten nachts von Explosionsgeräuschen.
Der ukrainische Grenzschutz berichtet währenddessen von Todesopfern durch Raketenbeschuss auf einen seiner Posten im Süden des Landes am Asowschen Meer. Dabei habe es in der Nacht auf Freitag mehrere Tote und Verletzte gegeben, teilte die Behörde auf Facebook mit. Der Ort Primorskyj Posad liegt an der Küste zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim und dem ostukrainischen Separatistengebiet. Das ukrainische Militär geht davon aus, dass die russische Armee einen Korridor zwischen beiden Gebieten erobern will.
137 Tote am ersten Tag
Die ukrainische Armee habe am ersten Tag der russischen Invasion 137 Soldaten verloren, sagte Selenskyj. Er nannte sie Helden. 316 Soldaten seien zudem verletzt worden. Die russischen Angriffe aus mehreren Richtungen hatten am Donnerstagmorgen begonnen. „Heute hat Russland das gesamte Gebiet der Ukraine angegriffen. Und heute haben unsere Verteidiger sehr viel geleistet“, sagte Selenskyj. Angaben über zivile Opfer blieben spärlich. Im Gebiet Charkiw an der Ostgrenze seien 23 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden, teilte Verwaltungschef Oleg Sinegubow nach Angaben der Agentur Unian mit.
Selenskjy mutmaßte, dass der russische Angriff ihn stürzen solle. „Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nr. 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nr. 2“, sagte er. Er beklagte, dass keiner seiner internationalen Gesprächspartner eine Aufnahme der Ukraine in die Nato befürwortet habe. So sei die Ukraine auf sich allein gestellt. Auch die US-Regierung sah Selenskyj als ein „Hauptziel für russische Aggressionen“. Er verkörpere „in vielerlei Hinsicht die demokratischen Bestrebungen und Ambitionen der Ukraine und des ukrainischen Volkes“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums Ned Price dem Sender CNN.
Allgemeine Mobilmachung in Ukraine angeordnet
Der ukrainische Präsident ordnete am späten Donnerstagabend eine allgemeine Mobilmachung an, die für 90 Tage gelten soll und die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht. Schon vorher hatte er eine Teilmobilmachung von Reservisten befohlen. „Wir müssen operativ die Armee und andere militärische Formationen auffüllen“, begründete er seine Entscheidung. Bei den Territorialeinheiten werde es zudem Wehrübungen geben. Wie viele Männer betroffen sein werden, sagte der 44-Jährige nicht.
Nach ukrainischen Behördenangaben dürfen männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen. Man werde sie nicht über die Landesgrenze lassen, sagte der Leiter der ukrainischen Zollbehörde in Lemberg, Danil Menschikow. Er bat die Menschen, keine Panik zu verbreiten und nicht zu versuchen, eigenständig die Landesgrenze zu überqueren.
Undurchsichtige militärische Lage
Verlässliche Angaben zur militärischen Lage gab es nicht. Der Gegner konzentriere seine Truppen in den Gebieten Charkiw und Donezk im Osten sowie im Süden, sagte ein Sprecher des ukrainischen Generalstabs. Hauptziel scheine zu sein, Kiew zu blockieren. Nachts rückten russische Kolonnen auf die Hauptstadt vor. In etwa 200 Kilometer Entfernung kreisten sie die Kleinstadt Konotop ein, wie die örtliche Verwaltung meldete.
In der strategisch wichtigen ukrainischen Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer wurden nach Angaben der Stadtverwaltung 17 große Hochhäuser durch Beschuss beschädigt. Die Stromversorgung sei teilweise ausgefallen, die Wasserversorgung funktioniere hingegen. 23 verletzte Einwohner der Stadt sowie 23 verletzte Soldaten seien in Kliniken aufgenommen worden.
Am Donnerstag hatte Russland nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert. „Leider muss ich mitteilen, dass die Zone um Tschernobyl, die sogenannte Sperrzone, und alle Anlagen des Atomkraftwerks Tschernobyl unter der Kontrolle bewaffneter russischer Gruppen sind“, sagte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal am Donnerstag nach Angaben der Agentur Unian. Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt nur knapp 70 Kilometer entfernt. (dpa/red)
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