Tödlicher Angriff auf Dutzende Kriegsgefangene – Wer hat geschossen?
US-Außenminister Antony Blinken und sein Moskauer Kollege Sergej Lawrow haben Kontakt aufgenommen. Das ist das erste Mal seit Beginn des Kriegs in der Ukraine.
Die beiden Chefdiplomaten telefonierten am Freitag auf Initiative der US-Seite, während die Ukraine einmal mehr Russland Kriegsverbrechen vorwarf. Bei einem Angriff auf ein Lager mit ukrainischen Kriegsgefangenen starben mehr als 50 Menschen. Kiew gab Moskau die Schuld und sprach von „staatlichem Terrorismus“. Russland wiederum warf der Ukraine vor, das Gefängnis mit einem Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars beschossen zu haben.
US-Chefdiplomat Blinken ging in dem Gespräch mit Lawrow auch auf den Krieg ein. Er habe Lawrow deutlich gesagt, dass die USA russische Pläne, weiteres Territorium der Ukraine zu annektieren, nicht akzeptieren würden. „Die Welt wird Annexionen nicht anerkennen. Wir werden Russland weitere erhebliche Kosten auferlegen, wenn es mit seinen Plänen fortfährt“, sagte Blinken.
Nach Angaben des russischen Außenministeriums informierte Lawrow Blinken über den Gang der „militärischen Spezial-Operation“ in der Ukraine. Der russische Chefdiplomat habe betont, dass Russland alle Ziele in dem Land erreichen werde. Zugleich beklagte er demnach, dass die Ukraine die von den NATO-Staaten gelieferten Waffen gegen die friedliche Bevölkerung einsetze. Der Konflikt würde dadurch nur in die Länge gezogen und die Zahl der Opfer erhöht.
Gespräch über Gefangenen-Austausch
Es habe am Freitagmorgen (Ortszeit) ein „offenes und direktes Gespräch“gegeben. Dabei ging es um ein Angebot zur Freilassung der in Russland inhaftierten US-Basketballerin Brittney Griner und des amerikanischen Staatsbürgers Paul Whelan. So die Aussage von Blinken in Washington. Blinken sagte, um die Freilassung Griners und Whelans zu erreichen, liege bereits seit Wochen ein Angebot auf dem Tisch.
Die US-Regierung gab bisher keine Details zu dem Angebot an Russland bekannt. In US-Medien wurde aber über einen Gefangenenaustausch spekuliert. Demnach soll ein Austausch mit dem in den USA inhaftierten russischen Waffenhändler Viktor But (englisch: Bout) Teil des Angebots sein. Bereits im April hatten die USA und Russland inmitten des Ukraine-Kriegs überraschend Gefangene ausgetauscht.
Ukraine wirft Russland neues Kriegsverbrechen vor
Überschattet wurde das Telefonat vom Tod Dutzender Kriegsgefangener in einem Lager im Gebiet Donezk, die dort bei einem Angriff ums Leben kamen. „Dies ist eine weitere Bestätigung, dass Russland ein Terrorstaat ist.“ Das äußerte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitagabend in seiner abendlichen Videobotschaft.
Die UN müssten das Verbrechen aufklären. Das IKRK müsse sich um die Lage der übrigen Gefangenen kümmern, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Es gab viele Verletzte. Russland hat nach eigenen Angaben Tausende ukrainische Kriegsgefangene. Medien zeigten Bilder von einem ausgebrannten Schlafsaal mit Leichen. Vor dem Gebäude mit Einschlaglöchern lagen mit Planen abgedeckte Körper.
Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow verglich die Tat von Oleniwka mit dem Massaker sowjetischer Soldaten in Katyn. Diese hatten dort im Zweiten Weltkrieg 1940 Tausende polnische Gefangene erschossen und in Massengräbern verscharrt. Russland sei ein Terrorstaat, der auf dem Schlachtfeld besiegt werden müsse, schrieb er auf Twitter.
Einen Tag nach dem Angriff auf das Lager veröffentlichte Russlands Verteidigungsministerium eine Liste mit Namen von 50 Toten und 73 Verletzten. Bei dem Angriff mit einem Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars sei der Großteil der 193 Kriegsgefangenen in Oleniwka im Gebiet Donezk getötet oder verletzt worden, teilte das Ministerium am Samstag mit. Zuvor war von mehr als 50 Toten die Rede.
Kiew: Russische Armee beschießt Städte im Süden und Osten der Ukraine
Die russische Armee hat nach ukrainischen Angaben im Süden und Osten der Ukraine mehrere Städte unter heftigen Beschuss genommen. Im südlichen Mykolajiw wurden nach Angaben von Bürgermeister Oleksander Senkewitsch in der Nacht auf Samstag beim Beschuss zweier Wohngebiete durch Raketen ein Zivilist getötet und sechs weitere verletzt. In der im Osten gelegenen zweitgrößten Stadt des Landes Charkiw wurde ukrainischen Angaben zufolge eine Schule zerstört.
Mykolajiw war in den vergangenen Wochen fast täglich angegriffen worden. Am Freitag waren dort bei einem Angriff in der Nähe einer Bushaltestelle sieben Menschen getötet worden.
In der nordöstlichen Großstadt Charkiw gingen nach Angaben örtlicher Behörden am frühen Samstagmorgen drei S-300-Raketen auf einer Schule nieder. Die Feuerwehr löschte laut Bürgermeister Igor Terechow den durch den Raketenbeschuss entstandenen Brand. Zu möglichen Toten oder Verletzten machte er zunächst keine Angaben. Laut dem Gouverneur der Region Charkiw, Oleg Sinegubow, schlugen in der Nacht zum Samstag insgesamt mindestens fünf Raketen in der Stadt ein.
In der von Russland besetzten südlichen Region Cherson beschossen ukrainische Kräfte nach Angaben des Präsidentschaftsbüros in Kiew Lager und Stellungen des russischen Militärs unter anderem in den Ortschaften Tschornobajiwka, Nowa Kachowka und Bryliwka. Die ukrainische Armee hatte rund um Cherson zuletzt eine Gegenoffensive gestartet.
Die russische Botschaft in Großbritannien sorgte indes mit einer Äußerung zu Kämpfern des ukrainischen Asow-Regiments für Entsetzen. Am Freitagabend schrieb die diplomatische Vertretung auf Twitter, Asow-Kämpfer verdienten keine Exekution „durch ein Erschießungskommando“, sondern einen „erniedrigenden Tod“ etwa durch Erhängen, da es „keine echten Soldaten“ seien. Die ukrainische Regierung reagierte empört.
Das Asow-Regiment ist eine ehemals rechtsextreme Einheit, die inzwischen in die ukrainische Armee integriert wurde. Russland betrachtet das Regiment als neonazistische Organisation.
London: Russische Truppen mit Fähren bei Cherson
Mit Pontonbrücken und einem Fährensystem versuchen russische Kräfte nahe der südukrainischen Stadt Cherson nach britischen Angaben, ihren Nachschub sicherzustellen. Damit solle ausgeglichen werden, dass nahe gelegene und strategisch wichtige Brücken seit ukrainischen Raketenangriffen unpassierbar seien, teilte das Verteidigungsministerium in London am Samstag unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit. Wegen der Brückenschäden drohten die russischen Truppen in Cherson, vom Nachschub abgeschnitten zu werden, hatte es am Vortag aus London geheißen.
Nach britischer Einschätzung stehen die von Russland eingesetzten Behörden in den besetzten Gebieten in der Südukraine unter zunehmendem Druck, die Kontrolle über die Region zu festigen. Ihre Aufgabe sei es, im Laufe des Jahres Referenden über den Beitritt zu Russland vorzubereiten, hieß es. So würden die russlandtreuen Verwalter die Bevölkerung wahrscheinlich zwingen, persönliche Daten preiszugeben, um Wählerverzeichnisse zu erstellen. (dpa/afp/mf)
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