Ukraine: „Der Preis des Fortschritts wird in Blut gemessen“

Nicht alle ukrainischen Männer sind bereit zu kämpfen. Zumindest nicht, weil der Staat es verlangt. Sie fliehen lieber. Und sie zahlen – sie zahlen eine ganze Menge, um fliehen zu können.
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Tausenden von ukrainischen Männern ist es gelungen, sich durch verschiedene Tricks der Wehrpflicht zu entziehen – die in der ukrainischen Kultur der Korruption verankert sind.Foto: iStock
Von 29. August 2023

Die Kämpfe zwischen der Ukraine und Russland dauern nun schon seit 18 Monaten an. Viele Soldaten sind sehr erschöpft, Zehntausende haben ihr Leben verloren. Militärisch kann die Ukraine nur vorankommen, wenn es einen ständigen Nachschub an Truppen auf dem Schlachtfeld gibt.

Kampfflugzeuge und Waffen aus dem Westen treffen ein. Doch in der Tat würden viele ukrainische Männer alles geben, um nicht auf das Schlachtfeld zu müssen. Zumindest zahlen sie hohe Summen oder fliehen so schnell sie können. Jüngsten Berichten der britischen BBC zufolge sind einige sogar bereit, viel Geld zu zahlen, um einer Einberufung zu entgehen.

Gleichzeitig steigt der internationale Druck auf das Land. Viele erwarten, dass die Anfang Juni gestartete Gegenoffensive gegen die russischen Streitkräfte erfolgreich sein wird. Allerdings kommt das ukrainische Militär langsamer voran als erwartet.

Öffentliche Stimmung ist schwierig

Serhij Leschtschenko, ein Sprecher des ukrainischen Präsidialamtes und Journalist, sagte: „Wir haben kein Recht, das Kiewer Militär zu kritisieren. […] Die Offensive ist kein Pferd, das man peitschen kann, damit es schneller läuft.“

Weiter betonte er: „Der Preis des Fortschritts wird in Blut gemessen.“

Die Zeitschrift „The Economist“ zitierte ihn auch damit, dass dieses Phänomen bereits Auswirkungen auf die öffentliche Stimmung habe. Wie man die ukrainischen Männer motiviere, sei nun eine große Frage für die Regierung von Selenskyj.

Nach offiziellen Schätzungen sind bereits mehr als 40.000 ukrainische Männer bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Viele Familien sind zerbrochen. Foto: iStock

Der hohe Preis der Freiheit

Anfang August ging Präsident Selenskyj massiv gegen Korruption unter regionalen Militärverwaltern vor und erklärte, dass „Bestechung im Krieg gleichbedeutend mit Verrat ist“. Doch das Problem ist vermutlich tief im System verwurzelt. Es ist kein Zufall, dass die Europäische Union seit Langem betont, dass die Bekämpfung der Korruption eine wichtige Voraussetzung für den Beitritt der Ukraine zur EU sei.

Männer, die einen Krieg vermeiden wollen, sind bereit, viel zu zahlen. In der Zwischenzeit sind auch einige konkrete Informationen über die Höhe dieser Beträge an die Öffentlichkeit gelangt. Zeitungen wie der „Guardian“, die BBC und die „Financial Times“ haben konkrete Angaben veröffentlicht. Demnach sind Bestechungsgelder in Höhe von 5.000 bis 10.000 US-Dollar keine Seltenheit.

Das Geld wird entweder an die für die Einberufung zuständigen Offiziere oder direkt an Ärzte gezahlt. Letztere helfen bei der Ausstellung von Bescheinigungen, um nicht an die Front geschickt zu werden. Die Kosten für ein ärztliches Attest belaufen sich auf etwa 6.000 US-Dollar.

BBC interviewte einige Männer, die über die Karpaten nach Rumänien geflohen waren, um dem Militär zu entgehen. Zusätzlich zum Risiko ist die Flucht auch mit hohen finanziellen Kosten verbunden, der an die sogenannten „Begleiter“ gezahlt wird, bei denen es sich in Wirklichkeit um Schmuggler handelt. Doch selbst Geld ist keine Garantie für Sicherheit.

Vielerorts stellen die Grenzbeamten Fallen auf. An manchen Orten werfen sie Glasscherben in einen Grenzfluss, um die Füße der Männer auf der Flucht zu verletzen. Die Personen im Interview berichteten, dass täglich mindestens 20 Ukrainer aufgegriffen werden, die versuchen, die Grenze auf diese Weise zu überqueren. Selbst wenn an diesen Stellen alles gut geht, können die Kälte und die unbarmherzige Härte des Schnees die Männer überwältigen.

Nicht alle Flüchtlinge schaffen es durch die eisigen Karpaten. Foto: iStock

Telegram dient der Organisation von Fluchtwegen

Häufig werden soziale Medien genutzt. Da es sich um eine der schnellsten Formen der Organisation handelt und alle leicht Zugang finden, sind Chatgruppen eine große Hilfe für ukrainische Männer, die nicht kämpfen wollen.

Laut BBC haben Ukrainer zahlreiche Chat-Gruppen gebildet, um gemeinsam Wege zu finden, die Einberufung zu vermeiden. Ausgetauscht werden unter anderem Tipps über die Wege der Einberufungsbeamten, Erfahrungen über ärztliche Zeugnisse oder persönliche Erlebnisse.

In den Chatgruppen ist Vorsicht geboten. Neben der Verwendung von Pseudonymen gibt es gängige Phrasen, die zur Verschleierung verwendet werden. Beamte werden wegen der Farbe ihrer Uniformen beispielsweise als „Oliven“ bezeichnet.

Tausende sind bereits aus der Ukraine geflohen, um der Einberufung zu entgehen. Solche Gruppen gibt es im ganzen Land, und manche haben bis zu 100.000 Mitglieder.

Die „harte Taktik“ der Rekrutierungsbeamten

Die „Financial Times“ meldete unter Berufung auf offizielle Zahlen, dass bislang etwa 13.600 ukrainische Männer an den Grenzübergängen und weitere 6.100 an den Kontrollpunkten mit falschen Papieren erwischt wurden. Dabei geht es um Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Diese dürfen das Land seit März 2022 nicht mehr verlassen.

Zusätzlich zu den Fluchtwellen und den anhaltenden Korruptionsskandalen überschattet die Gewalt der Einberufungsbeamten die ukrainischen Militäraktionen. Das ungarische Portal „Orosz Hírek“ („Russische Nachrichten“), das über die Ereignisse in Russland berichtet, brachte dazu eine Reihe von beunruhigenden Videos.

Die in den letzten Monaten im Internet aufgetauchten Videos zeigten ukrainische Einberufungstechniken, mit denen – so heißt es – „Kiew versucht, die schweren Verluste in den Kämpfen auszugleichen“. „Mehrere Videos zeigen, wie Einberufungsbeamte wahllos Männer auf der Straße verfolgen, um ihnen Einberufungsbescheide auszuhändigen. Gezeigt wird auch, wie sie potenzielle Soldaten gewaltsam festnehmen und sogar verprügeln“, so das Portal.

BBC bestätigte, dass die an der Rekrutierungskampagne beteiligten Offiziere beschuldigt wurden, härter vorzugehen. In vielen Fällen sollen Menschen in Rekrutierungszentren vorgeladen worden sein. Sie sollen sich registrieren lassen, oft nur, um an Ort und Stelle aufgegriffen zu werden. Eine Rückkehr nach Hause wurde ihnen sofort verwehrt.

Mit Hilfe „harter oder einschüchternder Taktiken“ schicken die Rekrutierer diese neue „Freiwilligen“ an die Front – nach nur einem Monat Ausbildungszeit. Viele dieser Wehrpflichtigen sollen auf dem Schlachtfeld gestorben sein – oftmals nur wenige Tage, nachdem sie auf diese Weise „rekrutiert“ wurden.

Anti-Angst-Kampagne: „Angst sollte einen nicht zurückhalten“

Wie die Lösung der Rekrutierungskrise aussehen kann, wird in Meinungsumfragen und Analysen diskutiert. Vor dem Einmarsch der Russen wurde Männern, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung keinen Militärdienst leisten wollten, in der Regel eine Alternative angeboten. Eine solche Möglichkeit war die Arbeit in der Landwirtschaft oder im sozialen Bereich. Das hat die Regierung mit der Verhängung des Ausnahmezustands im vergangenen Jahr aber abgeschafft.

Nicht jeder sei „zum Kämpfen geboren“, sagte die Mutter eines 18-Jährigen, der nach Rumänien geflohen ist, gegenüber der BBC. Ihr Sohn zum Beispiel sei intellektuell „hochbegabt“, hätte aber im Kampf wohl „kaum eine Chance“, so die Mutter.

In ähnlicher Weise unterstützt auch „Yehor“ (Pseudonym) ein Recht auf Alternativen. Der junge Mann aus der Ukraine sagte dem Sender, dass das derzeitige „System sehr veraltet“ sei. Es entspreche einfach nicht mehr der modernen Welt. „Jede Situation ist einzigartig“, argumentiert Yehor, der der Meinung ist, dass die Menschen eine Chance haben sollten, nicht an die Front zu müssen.

Darauf reagiert die ukrainische Führung mit einer neuen Kampagne. Darin heißt es, Angst sei keine Schande, sondern eine natürliche menschliche Reaktion. Angst gelte als etwas, das man überwinden müsse. Wenn nötig, dann sollte man sich sogar freiwillig der Gefahr aussetzen und alle nötigen Opfer bringen.

Die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maliar sagte, die Regierung möchte, dass „so viele Menschen wie möglich ihre Ängste überwinden“, die ein Haupthindernis für den Eintritt in die Armee darstellen.

Zudem fügte sie hinzu, dass die Wehrpflichtigen auch verpflichtet seien, ihre persönlichen Daten in den Einberufungsbüros auf dem neuesten Stand zu halten. Gleichzeitig sagte Maliar gegenüber „Euractive.com“, dass „nicht jeder, der seine Daten aktualisiert, automatisch der Armee beitritt und nicht jeder, der mobilisiert wird, notwendigerweise in einem Kampfgebiet landet“.

Maliar sieht jedoch keine andere Wahl: „Wir sind alle Menschen und wir werden die Angst überwinden, um zu gewinnen.“



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