Ukraine: Siegfrieden oder neue Weltordnung?
Um jenseits der selbstverständlichen Empörung über den Angriffskrieg Putins einer Analyse näher zu kommen, ist eine Unterscheidung nach Kriegsauslösung und Kriegsursache notwendig. Auslöser des Ukraine-Krieges ist Putin, aber die Kriegsursache reicht weit zurück.
Mit den westlichen Lockangeboten an die Ukraine und an Georgien wurde Russland in seiner Machthemisphäre herausgefordert, die Ukraine dauerhaft gespalten, die Sicherheitspartnerschaft zwischen der NATO und Russland ruiniert. Darüber ging der Friede in Europa verloren.
Gemäß dem westlichen Universalismus gilt das Denken in Einflusssphären als völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch. Während in realpolitischen Denkschulen auch die Interessen des Gegners mitgedacht werden, gefährdet der Universalismus eine mögliche multipolare Weltordnung. In dieser käme Russland – wie allen Großmächten – eine Einflusssphäre zu, die etwa die USA seit der Monroe-Doktrin in Anspruch nimmt. Die Nichtzuerkennung einer russischen Einflusssphäre bedeutet aus Sicht Moskaus, dass der Westen den Anspruch hat, die ganze Welt als seine Einflusssphäre zu betrachten.
Die Ukraine ist in eine Falle gelockt worden. Über die Annäherung sowohl an die NATO 2008 als auch an die Europäische Union seit 2013 wurde die Ukraine nach Westen gezogen. Europäische NATO-Mächte hatten ihr Veto gegen einen baldigen Beitritt eingelegt, sodass man sich auf die Zukunftsformel einigte, wonach „die Ukraine der Nato angehören wird“. Sie geriet darüber in Feindschaft zu Russland, ohne umgekehrt die volle Solidarität des Schutzes von NATO und EU zu erhalten.
Der Westen proklamierte damit Werte, ohne direkt für sie einstehen zu wollen. Umso stärker tritt er heute indirekt für sie ein: durch Waffenlieferungen und durch selbstschädigende Sanktionen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin stellte klar, dass es den USA nicht um mehr um einen Kompromiss, sondern um eine „regelbasierte internationale Ordnung“ geht – selbstverständlich unter Führung der USA. Russland soll – so Austin – so sehr geschwächt werden, dass es künftig als Machtkonkurrent ausfällt. Alles andere als ein ukrainischer Sieg wäre demnach eine Niederlage der USA. Die Ukraine ist zwischen die Weltmächte geraten.
Moral als Ideologie der Globalisten
Mit dem erhofften „Ende der Geschichte“ sind die Unterscheidungen nach Kulturen und Mächten einer ideologisierten „Weltoffenheit“ zum Opfer gefallen. In der Unterschätzung der totalitären Dynamik des autoritären russischen Systems liegt der Irrtum derjenigen, die die Bundeswehr meinten, faktisch abschaffen zu können. Heute denkt dagegen ein umgekehrter Bellizismus in den Kategorien von Sieg oder Niederlage, oft handelt es sich um dieselben Leute.
Während die USA in einer ihr eigentümlichen Mischung von liberalem Missionarismus und Imperialismus immer auch Interessen hegen, ist das ausgenüchterte Europa eher einer humanitären Moral verpflichtet. Für die Grenzen des Möglichen ist in beider Denken wenig Platz. Im Ukraine-Konflikt fanden dann beide zueinander, auf Kosten der geopolitischen Kategorie.
Gesinnungsethik triumphiert über Verantwortungsethik. Universalisten und Moralisten scheinen weder die historischen Zusammenhänge noch die möglichen Folgen ihres Handelns von Interesse. Die reine Moral lässt keine Alternative zu – eine Haltung, die in dem denkwürdigen Ausspruch Annalena Baerbocks kulminiert, wonach sie der Gefahr eines Atomkriegs gelassen gegenüberstehe.
Die damit einhergehende Selbstgewissheit lässt keine Alternativen zu. „Wir suchen überall das Unbedingte“, dichtete Novalis. Aber bitte nicht auch noch in der internationalen Politik, in der sich der Westen damit unablässig in Widersprüche verwickelt. Die Lage der Menschenrechte in China oder im verbündeten Saudi-Arabien ist seit Langem weitaus schlechter als in Russland.
Im Ukraine-Krieg ist die moralische Bewertung endlich eindeutig, inklusive der klaren Unterscheidung nach Tätern und Opfern. Keineswegs eindeutig ist, ob es in den internationalen Beziehungen primär um Moral gehen sollte. Deren Verabsolutierung steht vielmehr realpolitischen Kompromissen im Wege.
Liberaler Imperialismus und gesinnungsethischer Moralismus gründen gemeinsam auf einer globalistischen Ideologie, in der Macht- und Interessensphären zugunsten der Vorstellungen von der „Einen Welt“ aufgehoben sind. Nicht einmal probeweise versetzen beide Haltungen sich in andere Kulturen. In großen Teilen der Welt sind es aber immer noch die düsteren Gedanken eines Thomas Hobbes, die das staatliche Handeln bestimmen. In ihnen wird der „Leviathan“, der allmächtige Staat, daran gemessen, ob er Ordnung, Einheit und Stärke des Staates gewährleistet, das „Wie“ ist dabei zweitrangig.
Im Umgang mit finsteren Ordnungsmächten wäre weitaus mehr Behutsamkeit gefordert. Denn wenn dem Leviathan, dem allmächtigen Staat, die Dinge entgleiten, droht er zum Ungeheuer zu werden, der eher die Zerstörung der Welt vorantreiben wird als den eigenen Untergang hinzunehmen. Die Gefahr muss bedacht werden, dass sich das Putin-Regime zu diesem Ungeheuer entwickeln könnte, sobald es in eine ausweglose Verliererrolle gedrängt worden ist.
Geopolitische Grenzen der Moral
Es gehört zu den Stärken des Westens, dass es immer auch alternative Stimmen wie die der neorealistischen Schule in den USA gibt, denen zufolge als Logik der internationalen Beziehungen die Geopolitik gilt. Der bekannteste Realpolitiker ist Henry Kissinger. 2014 schrieb er zur inneren Spaltung der Ukraine: „Jeder Versuch eines Flügels, den anderen zu dominieren, würde in einem Bürgerkrieg enden. Wenn die Ukraine für eine Ost-West-Konfrontation missbraucht würde, wäre für Jahrzehnte jede Chance vertan, Russland und den Westen (und besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System zusammenzubringen.“
Nachdem der Konflikt längst zu einem weltpolitischen Stellvertreterkrieg ausgeartet ist, muss er auf dieser Ebene entschieden werden. Der nahe liegende Kompromissfrieden – Neutralisierung und Föderalisierung der Ukraine – war schon im Minsker-Abkommen vorgezeichnet worden, im Grunde sollte damit eine „Finnlandisierung“ der Ukraine gelingen. Es war wohl der entscheidende Fehler, die USA hierin nicht hinreichend einzubeziehen, womit ihre dominante Rolle infrage gestellt wurde.
Die amerikanische Strategie ist schon deshalb rätselhaft, weil sie oft mit den Regierungen wechselt. Nach dem Desaster in Afghanistan schien ein Strategiewechsel zur multipolaren Weltordnung denkbar, aber es haben diejenigen die Oberhand gewonnen, die in der Ukraine eine Chance sehen, verlorene Weltmachtansprüche zu erneuern. Eigentlich war China längst als alleiniger Konkurrent um die Weltmacht ausgerufen. Demnach hätten sich die USA gemeinsam mit Russland den „Herausfordererkulturen“ China und auch dem Islamismus entgegenstellen können. Jetzt geht es dagegen um die Schwächung Russlands, um erst danach China entgegenzutreten. Statt einer multipolaren wird eine bipolare Ordnung angestrebt.
Auch die Ukraine sollte sich keine totale Niederlage Putins wünschen. Das russische Reich konnte sich in der Geschichte oft nur mit Gewalt behaupten. Eine große Niederlage könnte entweder dessen Explosion oder dessen Implosion herbeiführen – und Letzteres den Europäern einen zweiten Nahen Osten vor der Haustüre bescheren. Mit einer Explosion wäre auch den Freiheitswünschen der Ukrainer nicht gedient.
Die Lage ist bedrohlicher als im Kalten Krieg, in dem sich beide Seiten auf Spielregeln innerhalb klarer Grenzen geeinigt hatten. Der Frieden verdankte sich keinem moralischen Eifer, sondern dem Respekt vor der Machtsphäre des Feindes. Spätestens nach der Kuba-Krise wurde jegliche Grenzübertretung vermieden. Wir sollten uns an den Rat von John F. Kennedy erinnern, wonach man eine Atommacht niemals in eine Situation bringen darf, aus der sie keinen gesichtswahrenden Ausweg findet.
Die Lösung läge in einer Neutralisierung und Föderalisierung der Ukraine – und in der künftigen Neutralität Russlands und der USA. Hinsichtlich der Krim wird der Ukraine einer Anerkennung der Realitäten abverlangt – wie einst Deutschland in der Entspannungspolitik des Kalten Krieges.
Sowohl der Moralismus der Europäer als auch das imperiale Streben der USA müssen von einer friedlichen Koexistenz des Verschiedenen abgelöst werden. Die Gemeinsamkeiten in der „Einen Welt“ müssen dem Aushandeln von Gegenseitigkeiten weichen. Realisten aller Länder – vereinigt euch.
Zunächst aber gilt es in diesem neuen Stellvertreterkrieg den Weltanschauungskonflikt zwischen Universalismus und Multipolarismus zu verstehen. Dafür müsste der innerwestliche Diskurs auf ein anderes Niveau gehoben werden. Erst danach könnte die moralisierende Weltoffenheit des Globalismus in eine neue Realitätsoffenheit übergehen, zu der die Strategie der westlichen „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“ passen würde.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft und Autor, zuletzt erschien sein Buch „Selbstbehauptung“. Er lehrte als Gastdozent auch in Osteuropa und im Nahen Osten, darunter in Bethlehem und Jordanien.
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