Afghanistan: Bundesaufnahmeprogramm als trojanisches Pferd genutzt

In Erfurt landete am Mittwoch wieder ein Flieger mit sogenannten Ortskräften und Gefährdeten aus Afghanistan. Kürzlich warnte die deutsche Botschaft in Pakistan, dass Islamisten das Programm in großem Stil nutzen, um nach Deutschland zu gelangen. Wer sind die Menschen, die da kommen?
Afghanistan Taliban
Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid (L) während seiner Rede auf der ersten Pressekonferenz in Kabul am 17. August 2021 nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan.Foto: HOSHANG HASHIMI/AFP via Getty Images
Von 17. März 2023


Mittwochabend, 15. März, Flughafen Erfurt. Eine Maschine der SalamAir aus Oman landet auf dem Rollfeld. An Bord sind 210 Passagiere, Erwachsene und Kinder, Afghanen, Ortskräfte und ihre Familien, heißt es. Sie gehören zu den zu Rettenden aus dem Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan. Offiziell ging am 15. gar kein Flug über das Rollfeld in Erfurt, zumindest kein regulärer.

„Es handelt sich um ehemalige Zivilbeschäftigte, die in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet haben, oder um besonders gefährdete Personen sowie deren Angehörige“, schreibt der MDR. Im Februar seien bereits zwei solche Maschinen in Erfurt gelandet, heißt es weiter. Der nächste Schritt: die Unterbringung in zentralen Unterkünften des Bundes. Dann folgt die Weiterverteilung auf die Bundesländer.

Eine kurze Meldung nur, keine Hintergründe, keine Fragen. Jeder weiß, dass es diese Flüge gibt. An Bord afghanische Ortskräfte, besonders Gefährdete – und ihre Familien. Vielleicht. Es gibt Warnungen aus dem deutschen diplomatischen Bereich aus der Region. Von Leuten, die dienstlich mit dem Aufnahmeprogramm zu tun haben, die mit den Personen im Programm persönlich zu tun haben.

Eine Islamistenwarnung aus Pakistan

Nach dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan im Sommer 2021 und der fast kampflosen Übernahme des Landes durch die Taliban war man in Deutschland besorgt. Für die „ehemaligen Ortskräfte und weiteren besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen“ wurde ein Rettungsprogramm gestartet. Nun stellt sich heraus, dass gerade über dieses Programm islamistische Ideologen versuchen, nach Deutschland zu kommen.

Da die deutsche Botschaft in Kabul seit der Machtübernahme durch die Taliban „bis auf Weiteres geschlossen“ ist, ist die nächste zuständige diplomatische Vertretung Deutschlands die in Islamabad, der Hauptstadt von Pakistan. Aus dieser ereilte am 22. Februar ein vertrauliches Schreiben – „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ – das Auswärtige Amt in Berlin. Wie der „Cicero“ berichtet, dem das Schreiben vorliegen soll, geht es um eine Warnung, dass das Bundesaufnahmeprogramm von Islamisten unterlaufen wird.

Eigentlich wollte man mit dem Bundesaufnahmeprogramm auch afghanische Justizangehörige vor der Verfolgung durch die Taliban retten. Allerdings: „Etwa 50 Prozent dieser Gruppe sind nach Erfahrungen der Botschaft keine Richter und Staatsanwälte mit klassischer Ausbildung, sondern Absolventen von Koranschulen, (…) geschult in der Scharia, im religiösen Rechts- und Wertesystem des Islam.“

Die Warnung des deutschen Botschafters ist eindeutig: „Die Erteilung von Aufnahmezusagen für Scharia-Gelehrte unterstützt die Unterwanderung unserer Rechtsordnung durch islamistische Kreise.“

Freibrief für NGOs

Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan wurde in Kooperation von Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt unter Beteiligung des Bundesentwicklungsministeriums „sowie im Dialog mit Organisationen der Zivilgesellschaft“ entwickelt.

Da die personelle Auswahl der zu Rettenden nicht direkt in Berlin getroffen werden kann, kamen hierbei die bereits genannten „Organisationen der Zivilgesellschaft“ zum Zug. Wie der „Cicero“ zu diesen NGOs schreibt, habe die Bundesregierung die Auswahl der Afghanen diesen Organisationen überlassen.

Das Ganze sei jedoch recht intransparent. Die beiden federführenden Ministerien hielten sogar deren Identität geheim, heißt es. Nach Angaben des Politmagazins könnten diese NGOs als „meldeberechtigte Stellen“ zu rettende Personen benennen. Die deutsche Botschaft in Pakistan und andere zuständige Behörden überprüfen die Angaben dann.

Und hierbei ist der diplomatischen Vertretung in Islamabad wohl etwas aufgefallen. Laut dem Botschafter habe eine NGO „bis zu 700 Gefährdungsanzeigen“ für angebliche Justizangehörige in Afghanistan gestellt. Dem ranghohen Diplomaten war jedoch aufgefallen, dass die Anzeigen „sich in Struktur und Argumentation der Gefährdungslage auffallend ähneln und stellenweise wort- und inhaltsgleich sind“.

So habe die Überprüfung der Fälle oft Zweifel an der tatsächlichen Gefährdung der angeblichen Justizangehörigen ergeben. Der Botschafter berichtete von juristischen Kenntnissen im Umfang von „Crashkursen“ von wenigen Stunden bis hin zu 60 Tagen. Es sei keine fundierte juristische Ausbildung festzustellen, die „im Gegensatz zu der in der Koranschule vermittelten Rechtsauffassung steht“.

„Scharia-Richter“ für Deutschland?

Noch etwas war dem Botschafter aufgefallen: das „Auftreten der Antragsteller und der Familienangehörigen im Visaverfahren“. Er berichtete beispielsweise von Frauen, die komplett mit Burka oder Niqab verschleiert erschienen seien und sich teils sogar geweigert hätten, „zur Identifizierung ihren Schleier zu lüften“.

Besonders wichtig war dem Botschafter, zu erwähnen, dass diese Personen „keinerlei Probleme bei der Beschaffung von Dokumenten/Pässen oder Visa für Pakistan“ gehabt hätten.

Dem Schreiben war eine Liste mit besonders auffälligen Personen beigefügt. Zehn Männer mit jeweils bis zu zehn Familienangehörigen; sie alle wollten nach Deutschland. Neben den Namen dieser Männer gab es eindeutige Vermerke: „Mullah mit Verbindung zu Taliban“, „Scharia-Richter“ oder „Mullah mit möglichem IS-Bezug“. Diese Männer seien nicht nur von deutschen Juristen-NGOs als gefährdet gemeldet worden, sondern auch von Bundestagsabgeordneten, schreibt „Cicero“ anhand der Liste.

Um dieses für Deutschland gefährliche Problem der Unterwanderung zu lösen, schlug der Botschafter vor, nur noch Aufnahmezusagen für „Richter/Staatsanwälte mit klassischer juristischer Ausbildung“ aus dem afghanischen Justizbereich zu machen. Doch auch rückwirkend muss gehandelt werden: „Unverzüglich Rücknahme der Zusagen, sofern schon erteilt“.

Wer sollte eigentlich gerettet werden?

Das eigentliche Bundesaufnahmeprogramm richtet sich den Angaben auf dessen Website nach vor allem an Afghanen, die sich „durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind“. Auch Opfer von Frauen- und Menschenrechtsverletzungen oder religiös Verfolgte fallen darunter.

Außenministerin Baerbock scheint jedoch eine andere Priorisierung zu haben. Sie erklärte: „Viele Menschen in Afghanistan leben jeden Tag in Angst vor Verfolgung und Gewalt – Menschen, die mit uns an eine bessere Zukunft Afghanistans geglaubt“ hätten, so die Grünen-Politikerin. Frau Baerbocks Angaben nach würden die Taliban „vor allem Frauen und Mädchen […] jede Perspektive und Hoffnung“ rauben und ihre Rechte immer weiter einschränken. „Besonders an sie richtet sich deshalb das humanitäre Aufnahmeprogramm“, so die Ministerin. Ihnen wolle man ein Stück Hoffnung zurückgeben „und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit“.

Es sollen also hauptsächlich Frauen und Mädchen aus Afghanistan nach Deutschland gebracht werden. Möglicherweise geht das aber am eigentlichen Ziel eines Rettungsprogramms für verfolgte Afghanen vorbei.

Dass die Außenministerin den Schutz von Frauen und Mädchen besonders in den Blick nehme, sei nachvollziehbar, kommentierte Pro Asyl die Regierungspläne. Allerdings wies die Organisation darauf hin: „Im Falle von Racheaktionen durch das Taliban-Regime ist zu berücksichtigen, dass überwiegend männliche Familienangehörige in dessen Visier geraten.“

Pech für afghanische Journalisten

Vorbei geht das aufwendige Programm auch an gefährdeten afghanischen Journalisten, wie von der Organisation Reporter ohne Grenzen bereits aufgezeigt wurde. Viele kritisch berichtende Journalisten aus Afghanistan sind auf Anraten von Mitarbeitern der Bundesregierung nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban ins Ausland geflüchtet, meist nach Pakistan.

Das Bundesaufnahmeprogramm besteht aber darauf, dass die zu Rettenden in Afghanistan sind, nicht im Ausland. Jene Journalisten dürften aufgrund ihres rechtlichen Status aber in Pakistan gar nicht als Journalisten arbeiten, „wodurch sie als wichtige Stimmen in der afghanischen Medienlandschaft verstummen“, so die Reporterorganisation.

Geschäftsführer Christian Mihr deutet auf eine bislang aussichtslose Situation: „Entweder sie bleiben als Geflüchtete in den Nachbarländern stecken, dürfen dort nicht arbeiten und haben keine Aussicht auf einen Platz im Programm. Oder sie folgen dem Fünkchen Hoffnung auf einen solchen Platz und riskieren den Weg zurück nach Afghanistan – wo aber mit den Taliban schon ihre Verfolger auf sie warten.“

Man sei sich der „Baustellen“ im Bundesaufnahmeprogramm bewusst, so Außenministerin Baerbock. „Aber endlich ein bundesweites Programm zu haben, um besonders Schutzbedürftige möglichst gefahrlos auf legalem Wege in Sicherheit zu bringen, ist tausendmal besser als kein Aufnahmeprogramm zu haben.“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) versicherte: „Wir handeln und erfüllen unsere humanitäre Verantwortung.“ Die SPD-Regierungspolitikerin erklärte auch, dass Deutschland im EU-Vergleich „mit Abstand die meisten Aufnahmen von ehemaligen Ortskräften und weiteren besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen“ ermöglicht habe, so Faeser in der Pressemitteilung ihres Ministeriums zum Programmstart im Oktober.

Faesers Blick geht nach vorn. Man habe einen „strukturierten Rahmen für die Zukunft geschaffen“, so die Ministerin, mit festgelegten Aufnahmekriterien und zum Schutz der „besonders gefährdeten und vulnerablen Personen aus Afghanistan“.

Das Aufnahmeprogramm 1.000 (plus X)

Das Bundesaufnahmeprogramm wurde am 17. Oktober 2022 gestartet. Fortan sollten monatlich rund 1.000 „besonders gefährdete“ Afghanen aufgenommen werden – mit ihren Familien.

„Bei der Berücksichtigung von Familienangehörigen kommt eine Familiendefinition zur Anwendung, die an die Lebensrealität vor Ort angepasst ist“, heißt es in den Erläuterungen zum Aufnahmeprogramm beim Bundesinnenministerium. Auf der Website des Aufnahmeprogramms wird das näher erklärt. Demnach betreffe das Programm die Hauptperson sowie die Kernfamilienmitglieder, wie Ehepartner und minderjährige ledige Kinder.

Jedoch sollen auch Familienangehörige involviert werden, die in einem „besonderen, nicht nur wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zur Hauptperson stehen“ oder sich wegen der Hauptperson in einer „konkreten und andauernden Bedrohungslage befinden“.

In einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 17. Oktober 2022 wird berichtet, dass schon vor dem Programmstart 26.000 Ortskräfte und gefährdete Afghanen nach Deutschland gebracht worden seien, Familienmitglieder bereits inklusive. Damit waren zum eigentlichen Start des Afghanistan-Programms bereits zwei Drittel der zugesagten 38.100 Plätze ausgeschöpft.

Auf die Frage, wie lange das Programm laufen soll, wurde darauf verwiesen, dass es „während der laufenden Legislaturperiode (bis voraussichtlich September 2025) umgesetzt“ werden soll. Dabei müssen aber auch die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Deutschlands berücksichtigt werden, hieß es ergänzend.

Für involvierte NGOs ist das alles zu niedrig gegriffen. „Insgesamt sind es rund 120.000 Menschen mit Anspruch auf Schutz und Aufnahme“, sagte laut TAZ Axel Steier von Mission Lifeline Ende Januar.



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