„Arzneimittel gehören nicht auf den Flohmarkt!“ – ABDA-Präsident kritisiert Ärztechef
Personalausfälle, hohe Patientenzahlen, Medikamentenengpässe. Die aktuelle Lage zeigt, mit welchen Problemen das Gesundheitswesen zu kämpfen hat. Eine Aussage des Präsidenten der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, zeigt einmal mehr die desolaten Strukturen. In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ sagte Reinhardt: „Jetzt hilft nur Solidarität. Wer gesund ist, muss vorrätige Arznei an Kranke abgeben.“
„Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft“, schlägt Reinhardt vor. Infrage kämen dabei auch Medikamente, die bereits einige Monate abgelaufen seien, denn in der Not könne man zahlreiche Arzneimittel immer noch gefahrlos verwenden.
Die Aussage des BÄK-Präsidenten trifft auf harsche Kritik. Thomas Benkert, Präsident der Bundesapothekerkammer (ABDA), widerspricht Reinhardts Aussage vehement: „Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt – schon gar keine abgelaufenen Arzneimittel.“
„Es schockiert mich, dass der Präsident der Bundesärztekammer Derartiges öffentlich vorschlägt“, so Benkert weiter. Er warnt:
Verfallene Arzneimittel können die Gesundheit der Patientinnen und Patienten massiv gefährden, ganz abgesehen von haftungsrechtlichen Fragen.“
Zudem stehe die Gesetzeslage dem klar entgegen und die aktuelle Situation eigne sich nicht für Populismus. Zwar gebe es derzeit schlichtweg zu wenig Fiebersäfte, aber der Vorschlag von Reinhardt gehe „völlig an der Realität vorbei“.
Laut ABDA-Präsident stehen die Apotheken derzeit unter enormem Druck, um das Fehlen von lebenswichtigen Arzneimitteln zu managen. „Es wäre wünschenswert, wenn sich auch Repräsentanten der Ärzteschaft verantwortungsvoll an Lösungsansätzen beteiligen würden“, so Benkert.
„Ein Schlag ins Gesicht“
„Für die uns als Apotheken auferlegten Pflichten sind die Worte des Ärztepräsidenten ein Schlag ins Gesicht“, erklärte Jana Schwiek, Inhaberin einer Dresdener „Benno-Apotheke“, gegenüber Epoch Times. Wenn erst einmal Medikamente an Patienten herausgegeben wurden, dürften diese nicht einmal von den Apotheken zurückgenommen und an geeignete Patienten weiterverteilt werden. Im Gegenteil. Laut geltenden Auflagen müssen die Medikamente von den Apotheken entsorgt werden. „Aber jetzt spielt nicht einmal mehr das Verfallsdatum eine Rolle!“
Als es um Spenden für die Ukraine ging, durften wir nicht einmal abgelaufene oder von Kunden zurückgegebene Medikamente dorthin spenden“, erinnert sich die Apothekerin.
Wenn jetzt abgelaufene Paracetamol-Säfte im Rahmen der Nachbarschaftshilfe weitergegeben würden, widerspreche dies sämtlichen Anforderungen und Regularien, die im Arzneimittelgesetz und der Apothekenbetriebsordnung festgelegt seien.
Bei Arzneimitteln handelt es sich um Waren der besonderen Art, für die bestimmte Regularien greifen, um Sicherheit, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zu gewährleisten. So sind gemäß Apothekenbetriebsordnung Apotheken verpflichtet, Transport- und Lagerbedingungen, Temperatur- und Verfallskontrollen einzuhalten, durchzuführen und entsprechend zu dokumentieren.
„Beratungspflichten bei der Abgabe an Patienten gehören ebenso dazu, wie eine Plausibilitätsprüfung des Kundenwunsches“, schildert Schwiek. „Außerdem ist mit der Apothekenpflicht der private Handel zwischen Endverbrauchern verboten.“ So würden Anzeigen bei eBay von der Plattform regelmäßig unterbunden. Ein Versand sei an spezielle Rahmenbedingungen gebunden, wie Versandhandelserlaubnis, Temperaturdokumentation und Beratungspflichten.
Auch Ärzte dürfen nicht mit Arzneimitteln handeln, erklärt die Apothekerin weiter. Um eine unabhängige ärztliche und apothekerliche Tätigkeit zu gewährleisten, seien die Berufe schließlich auch voneinander getrennt worden. „Wenn jetzt all diese Regularien außer Kraft gesetzt werden würden, wäre das ein Schlag ins Gesicht der Apotheker, die trotz der aktuellen Situation nach wie vor bemüht sind, der überbordenden Bürokratie gerecht zu werden“, kritisiert Schwiek. „Unsere Pflichten werden ja nicht weniger und binden Kapazitäten, die wir dringend bräuchten, um der aktuellen Besorgungs- und Herstellungssituation gerecht zu werden.“
Eine Problemlösung aus ihrer Sicht besteht darin, zeitnahe die gesetzliche Fehlsteuerung und Überregulierung der letzten Jahrzehnte zu ändern – „besser spät als nie!“
„An Peinlichkeit und Ahnungslosigkeit nicht zu überbieten“
Der BÄK-Präsident habe mit seiner Aussage „den Vogel abgeschossen“, ist auf „apotheke-adhoc“ zu lesen. Die Aufforderung, selbst abgelaufene Medikamente auf Flohmärkten zu „verscherbeln“, sei „an Peinlichkeit und Ahnungslosigkeit nicht zu überbieten.“
Dass ausgerechnet der Ärztepräsident hier Arzneimittel bagatellisiert, mache einfach nur sprachlos. „Warum nicht Grundschullehrer, Klempner oder Pfarrer mit der Rezeptausstellung betrauen und so die Praxen entlasten? Oder einfach mal den Nachbarn fragen. Ein gewisses Grundverständnis von Arzneimitteln bringt ja wohl jeder mit. Hier würden Grundsätze des sicheren Arzneimittelverkehrs einfach über Bord geworfen“, heißt es weiter in dem Artikel.
Die „Bild“ fragt: „Wie krank ist das denn? Wo sind wir denn in Deutschland hingekommen?“ Schon bald könne man in einem Aushang im Treppenhaus lesen: „Suche Fiebersaft für Kinder, biete Aspirin!“ Laut „Bild“-Informationen hält die Bundesregierung die Idee der Medikamenten-Flohmärkte für „unseriös“. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe sich auf eine Anfrage nicht äußern wollen.
Kritik in sozialen Medien
„Nein, es ist nicht der 1. April“, so der Twittereintrag des Rechtswissenschaftlers Dr. Hans Helmut Horn. Dass Reinhardt aufgrund von Medikamentenengpässen jetzt zu Flohmärkten aufruft, kann er nicht fassen. Soll es demnächst heißen: Tausche Betablocker gegen Hustensaft? „Was ist eigentlich mit Deutschland los?“, will Horn wissen.
Der bayerische Epidemiologe Dr. Friedrich Pürner spricht anlässlich der neuerlichen Aussage des Ärztekammerpräsidenten von einem „Offenbarungseid und Totalversagen der deutschen Politik“. Er warnt:
Als Arzt rate ich dringend von nachbarschaftlicher Aushilfe mit Medikamenten ab.
Helfen Sie gerne bei Eiern, Nudeln, Butter und Kondomen aus – aber nicht, wenn es um Medikamente geht.
Verordnung und Ausgabe von Medikamenten gehören in die Hände von Ärzten und Apothekern.“— Dr. Friedrich Pürner, MPH (@DrPuerner) December 18, 2022
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Niema Movvassat (Linke) gibt zu bedenken: „Stell Dir vor, Du studierst sechs Jahre Medizin, um dann Menschen zu empfehlen, abgelaufene Medikamente vom Flohmarkt zu kaufen.“
Der Europa-Abgeordnete Dennis Radtke (CDU) kommentiert: „Es ist schon Wahnsinn, auf welchem Niveau wir in unserem Land angekommen sind. Wir scheitern mittlerweile in allen Belangen in der Vorrunde – nicht nur beim Fußball.“
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