Ausgebrannte Lehrer: Ist die Qualität unserer Schulbildung in Gefahr?
Die Schulbildung ist ein wichtiges politisches Thema, auch in Krisenzeiten. Mit Dr. Zorn, dem Bereichsleiter Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, sprachen wir über die Frage, wie sich Krisen auf die Bildung auswirken und welche größten Herausforderungen es derzeit an Schulen gibt.
In der Forsa-Umfrage der Robert Bosch Stiftung wurden rund 1.000 Lehrkräfte befragt und die Umfrage ergab, dass Corona als größte Herausforderung genannt wurde. Hat Sie das Ergebnis der Umfrage überrascht?
Nein, das ist nicht wirklich überraschend. Die Pandemie hält Lehrkräfte und auch insbesondere Schulleitungen seit drei Jahren in Atem und führt dazu, dass eigentlich alles hinten runterfällt, was Lehrerinnen und Lehrer normalerweise im Fokus haben, nämlich guten Unterricht zu machen. Stattdessen mussten Schulleitungen und Lehrkräfte Notfallpläne erarbeiten, Tests überwachen und den Spagat meistern zwischen Kindern, die in Isolation waren oder aufgrund von Vorerkrankungen überhaupt nicht mehr in den Unterricht zurückkehren können, und gleichzeitig den Unterricht an der Schule organisieren. Dass das allen in den Knochen steckt und immer noch als größte Herausforderung wahrgenommen wird, kann niemanden wirklich überraschen.
Welche Auswirkungen hatten die Corona-Maßnahmen persönlich für Lehrer und Schüler?
Das Kerngeschäft von Lehrkräften ist eigentlich guter Unterricht, das ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Lehrkräfte wurden zu Notfallmanagern. Typischerweise zum Ende der Woche kamen neue Anweisungen aus der Bildungsverwaltung, wie der Unterricht ab der kommenden Woche zu organisieren ist. Dieses permanente Improvisieren hat zu einer erheblichen Mehrbelastung geführt. Nicht zuletzt sind Lehrkräfte auch sehr oft selbst Eltern und mussten neben der Verantwortung für ihre Schülerinnen und Schüler auch Lernen und Betreuung für die eigenen Kinder organisieren.
Die Belastung ließ auch nicht nach, als sich die pandemische Lage entspannte. Kinder und Jugendliche hatten vermehrt Verhaltensauffälligkeiten, Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, Motivationsprobleme, häufiger auch aggressives Verhalten, teilweise Kontaktphobien und Lehrkräfte mussten die Kinder wieder in den schulischen Alltag zurückbegleiten. Diese Folgen der Pandemie sind noch immer zu bearbeiten, auch wenn alle Schulen jetzt wieder offen sind.
Zusätzlich zu dem Problem durch die Corona-Krise gibt es jetzt die große Herausforderung, ukrainische Flüchtlingskinder in den Schulen unterzubringen und in den Schulbetrieb einzugliedern. Wie schwer ist das für die Lehrer und wie können sie dem gerecht werden?
In der Woche bis zum 26. Juni lernten schon mehr als 140.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen. Nach den Sommerferien dürften diese Zahlen noch deutlich steigen. Erwartet werden von der Kultusministerkonferenz bis zu 400.000 Kinder und Jugendliche. Im Deutschen Schulbarometer, durchgeführt vor Ostern, hatten nur 8 Prozent der befragten Lehrkräfte die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine als zentrale Herausforderung genannt. Das ist nicht verwunderlich, denn dieses Thema wird derzeit noch überlagert von den Corona-Folgen. 92 Prozent der Lehrer sagen, sie erleben ihr Kollegium erschöpft. Mehr als 80 Prozent sagen das auch über sich selbst. Die Lehrer sind durch die herausfordernden Umstände im Klassenzimmer und den dazu kommenden massiven Lehrkräftemangel ausgebrannt.
Die Aufnahme von ukrainischen Kindern äußert sich vor allem in der Sorge, wo die benötigten Lehrkräfte dafür herkommen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 20.000 und 30.000 zusätzliche Lehrpersonen als Sprach- und Lehrkräfte zur Integration erforderlich sind.
Ich interpretiere die Ergebnisse so: Lehrkräfte begreifen die Integration der Kinder aus der Ukraine als eine selbstverständliche Aufgabe. Es fließt aber die Sorge ein, wie die Lehrkräfte es schaffen sollen, wenn sie schon körperlich und psychisch über der Belastungsgrenze sind und gleichzeitig der Lehrermangel so eklatant ist.
Die Umfrage hat ergeben, dass 18 Prozent der Schulleitungen in den Flüchtlingskindern eine große Herausforderung sehen, jedoch nur 6 Prozent der Lehrer. Woher kommt diese Differenz?
Schulleitungen müssen in ihrer Rolle die nächste Herausforderung im Blick haben. Während der Umfrage hatten die meisten Lehrer noch keine ukrainischen geflüchteten Kinder oder Jugendliche im eigenen Unterricht. Es ist der Job von Schulleitung, den Unterricht zu organisieren und sicherzustellen und zu schauen, was auf sie zukommt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie da eher zusätzliche Probleme erwarten.
Inwiefern glauben Sie, dass die vermehrte Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingskindern die Qualität der Lehre beeinflussen kann?
Ich glaube, wir haben jetzt schon ein Riesenproblem, was die Qualität des Unterrichts angeht. Leistungsvergleichsdaten, wie jüngst die neuesten Grundschuldaten der Kultusministerkonferenz, zeigen, dass die durchschnittlichen Kompetenzen weiterhin sinken und der Anteil der Kinder, die nicht die Mindest- oder Regelstandards erreichen, steigt. Corona hat diesen Trend verschärft und zu einer noch größeren sozialen Spaltung geführt. Die Heterogenität, also die Vielfalt im Klassenzimmer, ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Wir bräuchten umfassende und langfristig angelegte Unterrichtsstrategien zur individuellen Förderung und für das individuell angepasste Lernen. In Zeiten des chronischen Personalmangels ist das schwer umzusetzen.
Wie können die Schulklassen bei dem Unterricht mit ukrainischen Flüchtlingskindern effektiv unterstützt werden?
Wir bräuchten vor allem schnell mehr Personal an den Schulen. Allerdings ziehen die Bundesländer dafür bereits jetzt praktisch schon alle Register: Quer- und SeiteneinsteigerInnen werden angestellt, pensionierte Lehrkräfte werden zurückgeholt, Master-Studierende werden im Unterricht eingesetzt usw. Es ist absehbar, etwa in Berlin, dass dies alles nicht reichen wird, um die Lücken beim Personal zu schließen.
Deshalb kommt es gerade bei den ukrainischen Schülerinnen und Schülern auch darauf an, auf die Kraft der Zivilgesellschaft zu setzen. Es gibt Initiativen der Zivilgesellschaft, z.B. sogenannte Pop-up Schools oder digitale Lernangebote für Kinder, damit ihnen beispielsweise der Schulabschluss ermöglicht wird. Digitale Bildung ist sicher kein Allheilmittel, aber es ist auf jeden Fall ein Element, um ukrainische Schülerinnen und Schüler bei der Fortsetzung ihres Bildungswegs zu unterstützen. Hierfür braucht es mehr Flexibilität, etwa was Stundenpläne, Lernorte und das Personal anbelangt.
Welche Rolle spielen bisher digitale Endgeräte an unseren Schulen?
Insgesamt hat die Nutzung von digitalen Endgeräten stark zugelegt. In der Pandemie sind einige „kleine“ Digitalpakte aufgelegt worden. Zum einen, um Endgeräte für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Schichten bereitstellen zu können. Zum anderen, um auch Lehrkräfte auszustatten. Auf Dauer ist die Frage interessant, was passiert, wenn die Geräte veraltet sind und das Förderprogramm des Bundes ausläuft. Kurzfristig kann man aber sagen, dass mehr Schulen als zu Beginn der Pandemie über digitale Endgeräte verfügen, für Schülerinnen und Schüler und für Lehrkräfte.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach für die Zukunft in der Bildungspolitik ändern?
Das ist eine sehr große Frage. Ich würde das gerne erläutern am Beispiel der Integration der ukrainischen Schülerinnen und Schüler. Ich glaube, dass in der derzeitigen Situation eine dreifache Chance für eine fundamentale Weiterentwicklung unseres Bildungssystems steckt. Der Ukrainekrieg wird mit Sicherheit nicht die letzte Krise sein und weitere Krisen werden erwartbar dazu führen, dass viele Menschen nach Europa fliehen werden. Die Vielfalt in deutschen Klassenzimmern steigt und Heterogenität ist der Normalfall. Darauf müssen sich Schulen noch besser einstellen als bisher.
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass wir noch nicht gut genug darin sind, Kinder individuell zu fördern und sie in all ihrer Vielfalt alle zu guten Lernerfolgen zu führen. Kinder aus sozial schwachen Schichten lernen sehr viel schlechter, und zwar in einem Ausmaß, das nicht akzeptabel ist.
Erstens muss das Thema mentale Gesundheit politisch einen zentralen Platz einnehmen. Ukrainische Kinder sind traumatisiert und auch an den Kindern, die schon vor dem Krieg an deutschen Schulen gelernt haben, sind die Folgen von Corona nicht spurlos vorbeigegangen. Sich mental und körperlich an einer Schule wohlzufühlen, ist ein riesiges, bisher nicht ansatzweise ausreichend bearbeitetes Thema.
Zweitens müssen wir die Diversität auch im Lehrerzimmer erhöhen. Die Lehrerzimmer müssen die Vielfalt im Klassenzimmer auch widerspiegeln.
Drittens sollten die Sprachen aller Kinder stärker anerkannt werden und in der Schule eine größere Rolle spielen, zum Beispiel durch einen Ausbau des herkunftssprachlichen Unterrichts und die Anerkennung der Familiensprache als Fremdsprache auf dem Zeugnis.
Für mich steckt dahinter eine Vision von Schule, die sich für alle Kinder und Jugendlichen öffnet und ihnen ein Ort ist, an dem sich alle wohlfühlen und gerne anstrengen, um zu lernen. Die jetzige Krise sollte ein Ansporn sein, eine gute, inklusive Schule für alle zu schaffen.
Das Interview führte Sarah Kaßner.
Dirk Zorn promovierte in Organisationssoziologie an der Princeton University und arbeitet nach mehreren Jahren in der Unternehmensberatung bei McKinsey seither als Bildungsexperte. Von 2013 bis 2021 arbeitete er bei der Bertelsmann Stiftung, wo er das Programm „Integration und Bildung“ leitete. Seit dem letzten Sommer ist er Bereichsleiter Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, von welcher die Umfrage bei Forsa in Auftrag gegeben wurde. Der Fokus seiner Arbeit liegt in den Feldern Bildungsmonitoring, Ganztagsschulentwicklung, Inklusion, digitale Bildung und Lehrerbildung.
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