Corona-Krise als Neuanfang? „Querdenken 711“-Chef Ballweg will eine neue Verfassung
Zustände wie 1914, als junge Menschen, Intellektuelle und Künstler den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als vermeintliche Initialzündung für einen Neubeginn feierten, der durch einen radikalen Bruch mit dem Althergebrachten den Weg in eine leuchtende Zukunft ebnen würde, zeichnen sich zwar nicht ab.
Die Corona-Krise mit Lockdown, wirtschaftlichem Einbruch und milliardenschweren Rettungspaketen hat aber in Teilen auch des deutschen Bürgertums einen Utopismus wiederbelebt, der auf das Prinzip Hoffnung baut – und auch die Establishment-kritischen „Querdenken“-Demonstrationen des Corona-Kritikers Michael Ballweg, auf denen unter anderem eine neue Verfassung gefordert wird, ist Ausdruck davon.
Verfassung nach Art. 146 GG als „Elefant im Raum“
Nicht nur die globalen Eliten, die einen „Great Reset“ herbeireden wollen, oder „Fridays for Future“-Jünger, die den Corona-Lockdown gerne auf unbestimmte Zeit in einen Lockdown für den „Klimaschutz“ umwidmen würden, versuchen mittels der Forderung, die Gunst der Stunde für „radikale Veränderung“ und einen „Neuanfang“ zu nützen, den seuchenbedingten Verwerfungen einen Sinn zu geben.
Auch in den Reihen der striktesten Gegner weiterer Einschränkungen im Zeichen von Corona will man neu durchstarten – die Forderung vieler Demonstranten vom Samstag nach einem „Friedensvertrag für Deutschland“ und einer „neuen Verfassung“ ist ein sichtbarer Ausdruck davon.
In einem Essay für „Cicero“ bezeichnet Kulturredakteur Ralf Hanselle die Verfassungsdebatte in den Reihen der Corona-Demonstranten als „Elefant im Raum“, den keiner sehen wolle. Und das, obwohl man mit dem Anspruch antrat, die von der geltenden Verfassung gewährleisteten Grund- und Freiheitsrechte der Bürger gegen einen als übergriffig empfundenen Staat in der Corona-Krise verteidigen zu wollen.
Die Verfassungsfrage ist dabei auch keine, die allein auf die Verschwörungsideologen der „Reichsbürger“-Bewegung beschränkt wäre, die mit ihren Thesen von einem „immer noch geltenden Besatzungsstatut“ und einer „BRD GmbH“ eine kritische Masse an Teilnehmern der jüngsten Kundgebungen erreichen konnten. Auch Initiator Michael Ballweg ist kein unbedingter Freund des Grundgesetzes.
Ballweg erklärt Demonstranten zur „Verfassungsgebenden Versammlung“
Als Ballweg sein Eingangsstatement zur großen Schlusskundgebung an der Siegessäule darbrachte, nimmt er Bezug auf den Artikel 146 des Grundgesetzes, das den ursprünglich als provisorisch gedachten Charakter des Grundgesetzes unterstreicht. In diesem heißt es:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Ballweg rief in weiterer Folge dazu auf, „uns eine eigene Verfassung zu geben, die diese Schwächen [der bundesdeutschen Realverfassung, aber offenbar aus seiner Sicht auch des Grundgesetzes] behebt und die Macht an uns, die Menschen zurückgibt“.
Debatte galt seit 1990 als erledigt
Der „Querdenken“-Initiator erklärte die Versammelten vor Ort sogleich zur „verfassungsgebenden Versammlung“ – und rief „alle Menschen auf, nach Berlin zu kommen, um gemeinsam mit uns an einer neuen Verfassung zu arbeiten“.
Als das Grundgesetz 1949 trotz der Ablehnung durch den Freistaat Bayern in Kraft trat, war es tatsächlich als Verfassungsprovisorium gedacht. Der Artikel 146 GG war gleichsam die passende Coda zur Präambel, in der die Wiedervereinigung in Freiheit zum Staatsauftrag gemacht wurde.
Im Jahr der Wiedervereinigung, 1990, stand die erste Jahreshälfte auch im Zeichen einer Debatte, inwieweit die bevorstehende „Einheit in Freiheit“, die als Konsequenz des Zusammenbruchs der sozialistischen Diktatur in der DDR verwirklicht werden sollte, auch dazu genützt werden sollte, von der Option des Artikels 146 GG Gebrauch zu machen.
Vor allem aus der DDR selbst kamen Forderungen dieser Art. Man solle, so hieß bis hinauf zum gewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, auf diese Weise „sozialistische Errungenschaften“ des untergehenden Staates in das gemeinsame Gemeinwesen retten. Ein „Recht auf Arbeit“ etwa, das den Staat proaktiv verpflichtet hätte, notfalls gegen die Gesetze des Marktes jedermann Beschäftigung zu garantieren. Oder die „Fristenlösung“, die sich später – durch eine Beratungspflicht vor einem neuerlichen Fiasko vor dem Bundesverfassungsgericht gerettet – auch tatsächlich im gesamtdeutschen Rechtsbestand wiederfand.
Politische Rechte war 1990 vehementester Gegner einer neuen Verfassung
Die politische Rechte in Deutschland – von konservativen Kräften in CDU und CSU bis hin zur geschichtsrevisionistischen „Deutschen Volksunion“ (DVU) des Verlegers Dr. Gerhard Frey – gehörte damals zu den vehementesten Gegnern einer neuen Verfassung.
Der damalige bayerische Ministerpräsident Max Streibl – und damit der Landeschef jenes Landes, das einst das Grundgesetz abgelehnt hatte – erklärte damals: „Etwas Besseres als das Grundgesetz gibt es nicht.“ Frey begründete seine Position nicht nur damit, dass das Grundgesetz „die beste Verfassung der Welt“ sei und bereits mehrfach dafür gesorgt habe, dass linksautoritäre Bestrebungen oder solche zur Beschränkung der nationalen Souveränität vom Bundesverfassungsgericht zu Fall gebracht worden wären. Zudem, so sein realpolitisches Argument, würde eine neue Verfassung mit Blick auf die herrschenden Mehrheitsverhältnisse im Land „fürchterliche Inhalte“ aufweisen.
Am Ende setzte sich auch in den politischen Entscheidungsetagen des Landes die Einschätzung durch, dass die Wiedervereinigung nicht von Experimenten hinsichtlich einer neuen Verfassung begleitet sein soll. Neben grundsätzlichem Argwohn über eine Anreicherung einer solchen mit sozialistischen Inhalten war auch der Zeitdruck dafür ausschlaggebend. Jeder Tag, an dem die Wiedervereinigung nicht vollzogen wäre, brachte nicht nur tausende zusätzliche Übersiedler aus der DDR, sondern auch einen weiteren Zusammenbruch staatlicher Strukturen und der Infrastruktur.
Beitrittslösung realpolitischen Erwägungen geschuldet
Um eine schnelle Wiedervereinigung zu gewährleisten und auch um der Stimmung in der Bevölkerung Rechnung zu tragen, die das Grundgesetz als bewährtes Instrument für Freiheit und Rechtsfrieden im Land ansah, entschied man sich am Ende dazu, die fünf neuen Bundesländer auf dem Gebiet der früheren Ostzone dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten zu lassen. Das Grundgesetz selbst wurde dahingehend geändert, dass der Auftrag der Präambel zur Herstellung der deutschen Einheit als erfüllt festgeschrieben wurde und aus dem Verfassungsprovisorium eine authentische Verfassung wurde.
Der Artikel 146 blieb dennoch erhalten, auch wenn er in weiterer Folge weithin als totes Recht und obsolet betrachtet wurde – bis vor etwa zehn Jahren erstmals Akteure der politischen Rechten oder heute solche wie Michael Ballweg versucht haben, ihn neu zu beleben.
In der Rechtswissenschaft gibt es an Verfassungen wie dem deutschen Grundgesetz seit dessen Bestehen grundsätzliche Kritik. Diese bezieht sich nicht nur auf einzelne Elemente wie den Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ in Artikel 31, der insbesondere für Bayern den Ausschlag für die Nichtannahme gegeben hatte.
Juristische Kritik am Grundgesetz nicht neu
Befürworter positivistisch geprägter reiner Baugesetzverfassungen nach österreichischem Vorbild, etwa der 1999 verstorbene österreichische Verfassungsjurist Friedrich Koja, widersprechen der Einschätzung, „wertegebundene“ Verfassungen wie das Grundgesetz wären tatsächlich in der Lage, totalitäre Bestrebungen aufzuhalten.
Aus ihrer Sicht leidet das Grundgesetz schon jetzt an einer Überfrachtung mit Staatszielbestimmungen (etwa „Umweltschutz“ oder „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“), die sich als aktive Gestaltungsaufträge an den Staat richten. Diese können – wie die Debatte über die sogenannten „Kinderrechte“ illustriert – im Zweifel sogar auf Kosten der Individual- und Bürgerrechte gehen. Immerhin beschränken sich traditionelle liberale Verfassungen darauf, die Kompetenzen zwischen den Staatsorganen zu verteilen – und im Übrigen die hoheitlichen Befugnisse des Staates gegenüber den Bürgern zu begrenzen.
Wo jedoch ein Auftrag des Staates zum proaktiven Handeln besteht, um ein in der Verfassung definiertes Staatsziel zu verwirklichen, kann der Staat sich auf diese berufen, um die Behauptung zu stützen, dass dafür auch Einschränkungen der Bürgerrechte erforderlich wären. Dies würde Staatszielbestimmungen sogar im Extremfall zu offenen Türen für autoritäre Bestrebungen machen.
Im Fall Ballwegs dürfte es eher das Unbehagen über die tagtägliche deutsche Verfassungswirklichkeit sein als eine fundierte Kritik am System der Verfassung selbst, das hinter den Forderungen nach einer „Verfassungsgebenden Versammlung“ steht.
Corona als Anlass für Venezuela-Szenario?
Die Gefahr, auf diesem Wege vom Regen in die Traufe zu gelangen, ist weniger denn je von der Hand zu weisen. Das jüngste Land, das mithilfe einer „Verfassungsgebenden Versammlung“ seine politischen Institutionen und die Machtverteilung im Land neu geordnet hatte, ist Venezuela. Dort wurde diese gebildet, um die sozialistische Diktatur zu festigen, die von den Präsidenten Hugo Chavez und Nicolas Maduro errichtet wurde und die mit dem ungewollten Phänomen einer deutlichen Oppositionsmehrheit in der regulären Nationalversammlung nach dem Wahlen von 2015 konfrontiert war. Die Bildung der „Verfassungsgebenden Versammlung“ war de facto ein Putsch von oben.
Auch in Deutschland wäre vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse und der politischen und weltanschaulichen Präferenzen einer Mehrheit der Bevölkerung, vor allem aber vor dem Hintergrund der Fähigkeit radikaler, aber lautstarker Minderheiten, Öffentlichkeit zu erzwingen, kaum zu erwarten, dass eine neue Verfassung auf der Grundlage des Artikels 146 GG freiere und menschenwürdigere Verhältnisse nach sich ziehen würde.
Vielmehr wäre damit zu rechnen, dass Freiheitsrechte des Individuums und kleiner Einheiten wie der Familie noch weiter hinter vermeintliche politische Notwendigkeiten, ideologische Dogmen, vermeintliche Bedrohungsszenarien („Klimakatastrophe“, „Islamisierung“ o. ä.) oder utopistische Szenarien zurückzutreten hätten. Eine Verfassungsdebatte könnte beispielsweise zum Ergebnis haben, dass nicht mehr die Unantastbarkeit der Menschenwürde an erster Stelle der Artikel über die Rechte der Bürger stünde, sondern das Staatsziel des „Klimaschutzes“.
Auch wäre damit zu rechnen, dass im Namen der „Kinderrechte“ und der „Bildungsgerechtigkeit“ das elterliche Erziehungsrecht marginalisiert werden würde. Eine Abschaffung des Artikels 4, der die Glaubensfreiheit garantiert, wäre unter dem Banner der „Islamkritik“ im AfD-Publikum ebenso mehrheitsfähig wie bei militanten Atheisten von links.
Vorsicht beim Wünschen
Darüber hinaus wäre davon auszugehen, dass es politische Mehrheiten für diverse „Genderrechte“, ein Verbot von „Hassrede“, weitreichende Diskriminierungsverbote oder den „Antifaschismus“ gäbe, die sich in einer neuen Verfassung niederschlagen würden. In Sachsen-Anhalt wurde dieser bereits vor einigen Monaten als Staatsziel in der Landesverfassung verewigt. Im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ wäre außerdem damit zu rechnen, dass die neue Verfassung den Weg frei machen würde für Maßnahmen wie den „Mietendeckel“ oder die Enteignung privater Wohnungsgesellschaften.
Es ist in Summe davon auszugehen, dass die Realität einer neuen Verfassung auf der Basis des Artikels 146 GG Ergebnisse bringen würde, die so gar nicht im Sinne derjenigen wären, die diese jetzt fordern.
Immerhin würde in diesem Fall ein offizieller Friedensvertrag, wie er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht geschlossen wurde, einen letzten Strohhalm bieten, um dem dann entstandenen Staat ein schnelles Ende zu bereiten: Aufgrund der Höhe der Reparationsforderungen, die in einem solchen Szenario auf Deutschland zukommen würden, wäre die Erklärung des Staatsbankrotts unabwendbar.
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