Corona-Papier des BMI wollte „Angst und Folgebereitschaft“ erzeugen

Neue Enthüllungen zum E-Mail-Verkehr zwischen BMI-Abteilungsleiter Markus Kerber und Verfassern des Corona-Papiers vom März 2020 erhärten den Vorwurf der Instrumentalisierung von Wissenschaft. So sollen unter anderem Angaben des RKI „kalibriert“ worden sein.
Von 17. März 2021

Das deutschsprachige staatliche russische Auslandsmedium „RT Deutsch“ hat auf seiner Seite Auszüge des E-Mail-Verkehrs präsentiert, der im Vorfeld der Anfertigung des Szenarienpapiers „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ zwischen dem Bundesinnenministerium (BMI) und mehreren späteren Mitautoren stattgefunden hatte.

Das Papier galt als Schlüsseldokument zur Rechtfertigung von Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung von Corona – wenige Tage, nachdem die Bundesregierung in sozialen Medien noch proaktiv vor „Fake-News“ gewarnt hatte, wonach „massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens“ in Vorbereitung wären.

In vier Tagen zum Corona-Panikdossier

Die Dokumente, deren Offenlegung von der westfälischen Rechtsanwältin Dr. Marion Rosenke eingeklagt worden war, lassen erkennen, welche Abläufe und welche Akteure eine Rolle bei der Erstellung des Dokuments gespielt hatten. Von der Beauftragung bis zur Präsentation des folgenschweren Papiers vergingen lediglich vier Tage.

Bereits vor einigen Wochen hatte die „Welt am Sonntag“ enthüllt, dass vom Bundesinnenministerium (BMI) Mitte März 2020 ein internes Expertengremium einberufen worden war, das anstehende Entscheidungen der Politik in der Corona-Krise mit wissenschaftlicher Expertise begleiten soll. Dem Gremium gehörten unter anderem Personen wie Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), an.

Ehemaliger Sprachlehrer und Mao-Apologet

Allerdings gehörten ihm auch Personen an, deren fachliche Qualifikation als Berater bezüglich der Bewältigung einer Pandemie sich nicht jedem Beobachter auf den ersten Blick erschließt.

Einer davon war ein Historiker und Doktorand an der Universität Lausanne namens Otto Kölbl, der allenfalls zum Entstehungsort der Corona-Pandemie einen Bezug aufwies: Er hatte in China als Sprachlehrer gearbeitet.

Zudem betreibt er einen Blog, auf dem er die Politik des KP-Regimes in Peking positiv bewirbt. Dort und auch in sozialen Medien verteidigte er auch mehrfach die Politik des totalitären Massenmörders Mao Zedong, dessen Herrschaft aus seiner Sicht im Westen zu kritisch beurteilt wird.

Drosten für Zweifel an chinesischen Angaben kritisiert

Markus Kerber, Staatssekretär in der Abteilung „Heimat“ des BMI und Verfasser des Papiers, zog Kölbls Dienste zurate trotz der fehlenden Erfahrung im Bereich der Pandemiebekämpfung und ungeachtet seiner Sympathie zu kommunistischen Diktaturen.

Neben Kölbl war auch der Bonner Politologe Maximilian Mayer in der „Ad-hoc-Forschungsplattform“ teil des Beratergremiums, der mit Kölbl zusammen das Dossier „Learning from Wuhan — there is no Alternative to the Containment of COVID-19“ erstellt hatte.

In dem Papier wurde die Pandemie-Politik des KP-Regimes als effizient und durchdacht dargestellt. Die westlichen Regierungen sollten sich daran ein Beispiel nehmen.

Charité-Virologe Christian Drosten wurde dafür kritisiert, dass er Zweifel an der Verlässlichkeit der Angaben aus Peking artikulierte. Wie die „Aargauer Zeitung“ schreibt, will Kölbl mit Mayer das Papier „in seiner Freizeit“ verfasst haben – allerdings unter Verwendung einer Dienstadresse.

Die Universität Lausanne, wo Kölbl als wissenschaftlicher Berater beschäftigt ist, forderte ihn daraufhin dazu auf, die Mailadresse der Einrichtung nicht für private Projekte zu verwenden. Sie hielt das Papier für einen Fake, bis sich der Staatssekretär persönlich in einer E-Mail an die Universität für seinen neu gewonnenen Berater einsetzte.

Staatssekretär fürchtete gesellschaftlichen Zusammenbruch

Wir „RT“ anhand des publik gemachten E-Mail-Verkehrs mutmaßt, brauchte Kerber jemanden, der in der Lage war, jene Panik, die er selbst vor dem Hintergrund möglicher Pandemie-Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft empfand, auch in der Öffentlichkeit hervorzurufen. Und dafür war Maoist Kölbl bestmöglich geeignet.

Der Staatssekretär machte sich Gedanken darüber, „wie lange die Netze noch reliabel funktionieren“. Er fürchtete Rekordarbeitslosigkeit und einen Absturz der Kapitalmärkte im Fall eines mehrmonatigen Stillstands. Der Haushalt würde nach seiner Prognose mit bis zu 200 Milliarden Euro an Mehrkosten belastet.

Um Maßnahmen rechtfertigen zu können, wären „unterschiedliche Belastungsszenarien“ erforderlich, „für die wir dann Maßnahmen präventiver und repressiver Natur planen können“.

Maoist Kölbl: „Fühle mich für Angst und Folgebereitschaft zuständig“

Für Kölbl das passende Stichwort. Er bekennt nach Angaben des Senders freimütig in einer E-Mail:

Das grundlegende Problem, für das ich mich zuständig fühle, ist das von Affektivität und Legitimität, sprich: von Angst und Folgebereitschaft in der Bevölkerung.“

Die „gewünschte Schockwirkung“ solle demnach mittels der Schilderung möglicher „konkreter Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft“ erzielt werden.

Diese reichten von Schwerkranken, die „qualvoll um Luft ringend zu Hause“ sterben würden, weil Krankenhäuser keinen Platz mehr für sie hätten, bis hin zu Kindern, die „ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“.

„Alles so kalibriert“, dass gewünschte Mortalität herauskam

Explizit empfohlen hatten Kölbl und Mayer einen Lockdown nicht. Sie sprachen eher von einem massiven Ausbau der Testkapazitäten sowie dem Ausbau von Intensivbetten und Quarantänemaßnahmen.

Mayer verwies sogar darauf, dass die Erfahrungen von Ländern, die 2003 vom SARS-Ausbruch betroffen waren, nicht den Schluss nahelegten, dass ein Lockdown die wirksamste Strategie zur Eindämmung sein sollte und wenn, nur kurzfristig eingesetzt Ergebnisse bringt.

Als eine „Modellrechnung zu Strategiefindung“ des RKI lediglich ein „sehr moderates Szenario von einer Letalität von 0,56 Prozent“ erkennen ließ, soll Boris Augurzky vom Essener RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) beim RKI nachgehakt haben, weil dieses damit auf deutlich weniger prognostizierte Todesfälle gekommen sei als es dem Worst-Case-Szenario entsprochen hätte, das man transportieren wollte.

Augurzky habe demnach geäußert:

Dann sollten wir unsere höhere Zahl rechtfertigen, auch wenn wir zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen. […] Ich würde vom Ziel her argumentieren, nämlich ‚hohen Handlungsdruck aufzuzeigen‘ und vom Vorsichtsprinzip: ‚lieber schlimmer als zu gut‘.“

Als aus dem RKI heraus Skepsis dahingehend geäußert wurde, inwieweit sich die von Augurzky gewünschte Letalitätsannahme aus den Daten des Instituts herauslesen ließe, teilte dieser mit, man habe „alles so kalibriert, dass am Ende eine Mortalität auf die Infizierten von etwa 1,2 Prozent […] herauskommt“.

BMI-Papier malte „mehr als eine Million Todesfälle“ an die Wand

Das Worst-Case-Szenario ging davon aus, dass sich die Verdopplungszeit der Fallzahlen bis zum 14. April von drei auf dann sechs Tage erhöhen würde – und bis Ende April auf neun Tage.

In diesem Fall würde der Anteil der Infizierten „schon relativ bald 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen“. Dies würde zu einer so immensen Überlastung des Gesundheitssystems führen, dass „über 80 Prozent der intensivpflichtigen Patienten von den Krankenhäusern mangels Kapazitäten abgewiesen werden“ müssten.

Dabei sei berücksichtigt, dass zeitnah zusätzliche Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Phase der Rationierung könnte zwei Monate andauern – und auf diese würde sich die Zahl von „mehr als einer Million Todesfälle“ errechnen.

Seehofer und Spahn sollen „hohe Qualität und Umsicht“ bescheinigt haben

Am 23. März sollen offenbar zwei Entscheider, möglicherweise die Minister Horst Seehofer und Jens Spahn selbst, positive Worte über das Papier gefunden haben.

Dieses kam demnach „sehr gut an und wird ob seiner hohen Qualität und Umsicht nun den Weg in das Krisenkabinett der Bundesregierung finden“, heißt es in einer E-Mail von jenem Tag. Damit verbunden sei der Auftrag gewesen, die Arbeit der Task Force fortzuführen.

Staatssekretär Kerber zeigte sich guter Dinge, dass es gelungen wäre, jene „Apollo 13“-Atmosphäre in Deutschland zu schaffen, in welcher mehr auf die konkreten Lösungspotenziale als auf die Zahlen zu Infektionen und Sterblichkeit geblickt werde.



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