Der Mensch nur ein Zellhaufen?

Nonnen, Geistliche, Familien und viele junge Menschen zogen mit einem „Marsch für das Leben – Für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!“ schweigend durch die Hauptstadt.
Titelbild
Teilnehmer am Marsch für das Leben“ in Berlin am 18.09.2021.Foto: Epoch Times
Von 25. September 2021

Der Himmel ist grau bewölkt. Es ist windig. Vereinzelt fallen Regentropfen. In einer der Berliner Straßenschluchten im Regierungsviertel, direkt neben den Büros der Bundestagsabgeordneten, herrscht plötzlich geschäftiges, angespanntes Treiben. Die um das Brandenburger Tor postierten Polizeikräfte setzen sich in Bewegung.

Es wird angeregt über Funk kommuniziert. Absperrgitter werden laut klirrend zur Seite gezogen. Dann taucht in der zuvor fast menschenleeren Straße weit hinten ein blaues Lichtermeer auf. Polizeifahrzeuge.

Daneben in dunkler Schutzausrüstung, zunächst nur schemenhaft zu erkennen, Einsatzkräfte, die eine bunte Menge schützend flankieren. Mit Holzkreuzen, Plakaten, farbigen Luftballons und Transparenten zieht diese vollkommen still und friedlich in einer Mischung aus lebendigem Mehrgenerationenfest und andächtiger Prozession durchs Stadtzentrum.

Nonnen, Geistliche, ganze Familien und viele junge Menschen gehören ihr an. Auf den Schildern steht „Marsch für das Leben“, „Ja zum Leben – Für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie!“, „Jedes Kind will leben“ und „Selbsttötung verhindern, nicht fördern“.

Die vorher übermächtig wirkende Häuserschlucht aus Glas und Beton wirkt plötzlich belebt. Eine sonderbare Szenerie voller Gegensätze zeigt sich – die zahlreichen martialisch wirkenden Polizisten in ihren Schutzausrüstungen, der friedliche Aufzug und drum herum das wuselige Stadtzentrum samt neugierig beobachtender Touristen am Straßenrand.

Wer muss hier vor wem geschützt werden?

Wer muss hier mit einem solchen Polizeiaufgebot geschützt werden und warum? Diese Frage mag so manchen Zuschauer bewegen. Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht, der diesen Marsch organisiert hat, fasst gegenüber Epoch Times zusammen:

„Unser Anliegen ist es, den Begriff der Menschenwürde nicht nur hineinzuschreiben, sondern tatsächlich in der Gesellschaft konsequent und umfassend verwirklicht zu sehen. Also für jeden Menschen, der wissenschaftlich gesehen von der Zeugung bis zum Tod eine irdische Existenz hat. Und deswegen treten wir dafür ein, dass diese Menschenwürde auch für Kinder vor der Geburt gilt, auch für Menschen in suizidalen Lebenslagen, auch für Kinder mit genetischen Besonderheiten oder für Menschen am Ende ihres Lebens, also dass dies für jeden gilt.“

Ihrer Ansicht nach sei ganz tief im Menschen enthalten, andere Menschen zu schützen, andere Menschen zu retten, anderen Menschen zu helfen. Das gelte für die Kinder, das gelte für die alten Leute. „Also eine Tendenz, Menschen, die nicht mehr leistungsfähig sind oder noch nicht leistungsfähig sind, zu beseitigen oder wegzuschieben, ist keine menschliche Eigenschaft, sondern das ist eine Tendenz, die nur in Zeiten kommt, in denen man meiner Ansicht nach keine so großen Sorgen mehr hat und vielleicht auch ein bisschen in Richtung Dekadenz geht“, so Linder.

Junge Leute offener geworden

Von ihr erfahren wir auch, dass der Marsch 2002 als Trauerkundgebung für alle Menschen, die „unter anderem an Abtreibung verstorben sind“, begann.

Auf die Frage, was sich seitdem in der Gesellschaft getan hat, weist sie auf verschiedene Strömungen hin. „Was die jungen Leute angeht, so sind sie deutlich offener geworden, weil sie die richtigen Fragen stellen und von diesen ideologischen Debatten der 70er Jahre völlig unbelastet sind“, so Linder. Sie stellten zum Beispiel die Frage: „Ist es denn gerecht, wenn ich ein Kind vor der Geburt umbringe?“ Sie sieht darin eine neue Klarheit.

Auf der anderen Seite gebe es allerdings gleichzeitig eine Tendenz in der Gesellschaft, die Wissenschaft negieren zu wollen und die Menschenwürde umzudefinieren. „Dass man zum Beispiel aus dem Kind dann einen Zellhaufen macht, bloß weil es noch eine gewisse Größe hat oder noch nicht hat, was aber wissenschaftlich völliger Unsinn ist.“

Nur mit dieser Umdefinition, so die dreifache Mutter, könnten die ideologischen Projekte wie zum Beispiel Abtreibung vorangebracht werden. Dabei werde die Selbstbestimmung von geborenen Menschen über das Lebensrecht von noch nicht geborenen Menschen gestellt. „Das ist von der Vernunft her schon völliger Unsinn, aber es wird jetzt sogar als Gesundheitsleistung verkauft oder als Menschenrecht.“

Von dieser ideologischen Sichtweise her, erklärt Linder, die unter anderem als Moderatorin und Journalistin für christlich orientierte Zeitungen und Magazine tätig ist, seien gar keine Debatten mehr möglich, schon gar nicht mehr mit wissenschaftlichen oder logischen Argumenten. Es werde stattdessen eigentlich nur noch diffamiert und gefordert und verlangt und gebrüllt, wie auch heute auf der Rückseite des Brandenburger Tores, führt Linder weiter aus.

„Ich sage immer, wer brüllt hat Unrecht. Wir würden lieber mit den Leuten diskutieren, um gemeinsam den Frauen zu helfen“, so die Vereinsvorsitzende.

Verhaltener Gegenprotest

Allerdings scheint der Gegenprotest verhaltener geworden zu sein. So lief nach Polizeiangaben die Veranstaltung 2021 ruhig ab.

In den letzten Jahren war dies anders. Es gab Sitzblockaden von Gegendemonstranten, die sich für die Abschaffung des Paragrafen 218 einsetzten. Sie hielten den Demonstrationszug teilweise stundenlang auf und mussten gewaltsam von der Polizei aufgelöst werden. Auch zu tätlichen Angriffe von Gegendemonstranten auf Marschteilnehmer kam es.

Gegendemonstranten beim „Marsch für das Leben“ in Berlin am 18.09.2021. Foto: Epoch Times

Wie ein Polizeisprecher gegenüber Epoch Times erklärt, gab es für die Berliner Polizei gegenüber dem Demonstrationszug, dem eine „im mittleren vierstelligen Bereich“ liegende Menschenmenge angehörte, dieses Mal „nur verbale Angriffe“ zu verzeichnen.

Ein kurzer Flashmob im Bereich Berlin-Mitte wurde registriert, bei dem sich die Teilnehmer kurzzeitig vor dem Aufzug auf die Straße legten. Bei Eintreffen der Polizeikräfte löste sich dieser allerdings ebenso schnell wie er entstand auch wieder auf, erklärt der Polizeisprecher. Außerdem gab es eine Gegenveranstaltung am Brandenburger Tor.

Dort bezog man sich auf das Recht zur Selbstbestimmung, das uneingeschränkt auch in der Schwangerschaft bis zur Geburt gelten solle. „150 Jahre § 218 reichen“ lautete dort das Motto. Mit einer lautstarken Trommlergruppe und verschiedenen Redebeiträgen auf einer mobilen Bühne drückte die überschaubare Menge ihren Protest gegenüber den Abtreibungsgegnern aus.

Teilnehmer beim „Marsch für das Leben“ in Berlin am 18.09.2021. Foto: Epoch Times

Aufseiten der sogenannten „Pro Life“-Demonstranten geht es dabei nicht nur um das Thema Abtreibung, wie eine christliche Reisegruppe aus Niedersachsen, die zusammen mit ihrem Gemeindepfarrer zu dem „Marsch fürs Leben“ nach Berlin angereist ist, klarstellt. Man möchte dazu beitragen, Menschen wachzurütteln oder Unentschlossene dazu zu bewegen, dass sie ihr Kind bekommen, erklärt aus dieser Gruppe ein Mann in den Fünfzigern.

Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem zurückgehenden christlichen Glaubensleben in der Gesellschaft und der wachsenden Geringschätzung eines Menschenlebens.

Dabei sei auch die Politik gefordert, sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einzusetzen, ebenso wie gegen Euthanasie. „Also von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod hat der Mensch das Recht auf Leben. Und das muss im Mittelpunkt stehen“, so der Niedersachse.

„Das menschliche Leben wird irgendwie vernachlässigt“

Ein anderer Teilnehmer, ein älterer Mann aus Oberbayern in der Nähe des Chiemsees, erklärt, dass er nach Berlin gekommen sei, um ein Zeichen zu setzen. „Überall wird demonstriert gegen irgendetwas und das Allerwichtigste, das menschliche Leben, das wird irgendwie vernachlässigt.“

Eine Apothekerin aus der Nähe von Amberg (Bayern) hat bereits mehrfach am Marsch teilgenommen. In diesem Jahr hat sie insbesondere das Thema Euthanasie in die Hauptstadt geführt. „Wenn ich nicht mehr will, dann beende ich halt mein Leben“, werde heute schnell mal gesagt. Für sie ist das nicht der normale Weg und dafür möchte sie mit ihrer Teilnahme einstehen. Bei der Abtreibung sieht sie es ähnlich. Da spreche man von „Abbruch“, in Wirklichkeit sei es aber die Beendigung eines Lebens.

Sie sieht aktuell noch keine positive Entwicklung, denn sie hört schon in ihrem Umfeld die Aussage: „Das passt jetzt nicht, es wird abgetrieben.“ Auch würden sich viele junge Menschen als Erstes bei einer Schwangerschaft die Frage stellen: „Willst du das Kind behalten?“ Das sei früher anders gewesen. „Da hat sich die Frage nicht gestellt, sondern da hätte man sich gefragt, wie man dies schaffen kann.“

Teilnehmer am „Marsch für das Leben“ in Berlin am 18.09.2021. Foto: Epoch Times

Eine positive Entwicklung trotz „Egoismus und Konsum“?

Linder sieht hingegen trotz Egoismus und Konsum eine positive Tendenz: „Eine gerechte Gesellschaft muss auf jeden achten, und zwar weltweit, egal wo er ist, egal wo er herkommt, egal in welchem Zustand er ist. Und da sehe ich schon, dass viele Leute sich besinnen und merken, was passiert, wenn ich das nicht mache.“ Man habe als Verein wirklich unheimlichen Zulauf. Sie sehe das sehr positiv, weil die Leute durch Vernunft gesteuert auch sähen, was passiere, wenn man nicht mehr auf die Menschen aufpasse.

Das müsse einem die Vernunft sagen, dass eine humane Gesellschaft und eine gerechte Gesellschaft nicht aufgebaut werden könne, wenn man versuche, bestimmten Menschengruppen ihr Lebensrecht zu nehmen. Für sie sei klar, dass es mit dem Staat nicht gut werden könne, wenn man die bioethischen Grundlagen nicht habe.

Keine Viertelstunde ist vergangen. Die Absperrgitter sind nun wieder geschlossen. Der Marsch für das Leben ist vorbeigezogen, die Straßenschlucht ist erneut fast menschenleer. Ein kühler Herbstwind weht.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung.



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