Der „Ostschild“ Europas und die neue globale Machtstruktur

Wie hat sich die Welt geostrategisch infolge des Ukraine-Krieges verändert? Durch eine NATO-Mitgliedschaft Finnlands wird es eine „frappante Veränderung der geostrategischen Situation auf dem Nuklearsektor“ geben. Und man müsse sich zwischen zwei Wegen für den weiteren Krieg in der Ukraine entscheiden. Das sagen ausgewiesene Experten an der Diplomatischen Akademie Wien.
Die Flagge der EU weht auf dem Reichstag im Wind.
Die Flagge der EU weht auf dem Reichstag im Wind.Foto: Monika Skolimowska/dpa
Von 31. Januar 2023


Entstehen in Europa und der Welt neue Machtverhältnisse durch den Ukraine-Krieg und seine Folgen? Dessen ist sich Werner Fasslabend, früherer Verteidigungsminister Österreichs und Präsident des Austrian Institute For European and Security Policy, sicher.

„Mit dem Krieg in der Ukraine haben sich die Verhältnisse wesentlich verändert“, stellt Fasslabend fest, der in Österreich Nationalratspräsident und in den 1990ern Bundesverteidigungsminister war. Die Worte fielen am 27. Januar auf einer Podiumsdiskussion des Austrian Institute For European and Security Policy an der Diplomatischen Akademie Wien.

Am gleichen Abend analysierte Oberst Martin Reisner vom österreichischen Generalstab den Verlauf des Ukraine-Krieges, die verschiedenen Kampfstrategien und die Waffenlieferungen des Westens. Reisner zeichnete zwei mögliche Szenarien auf, wie es in der Ukraine weiter gehen könnte – man müsse wählen, welchen Weg man gehen will.

Der „europäische Ostschild“

Vor dem Ukraine-Krieg waren Schweden, Finnland, auch Bosnien Beitrittskandidaten der NATO. Österreich, die Schweiz und Weißrussland bezeichneten sich als neutral. Es gab einige Länder, die „spezielle Verhältnisse mit der NATO“ hatten, wie Serbien, die Ukraine, die kaukasischen Länder und Länder Zentralasiens.

Nun gebe es einen „neuen europäischen Ostschild“, so der frühere Verteidigungsminister Werner Fasslabend, eine „neue Frontlinie von einer eigentlich überraschend starken Ausprägung, von einer hohen militärischen Kapazität“ – vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer.

Dieser bestehe aus vier Ländern, „vier Schlüsselländern“ für die gegenwärtige Situation und auch „für die zukünftige Verteidigung Europas“: Schweden, Finnland, Polen und die Ukraine. Die Ukraine habe im Kriegsverlauf gezeigt, über welche militärischen Kapazitäten sie verfüge.

Neu hinzugekommen sei Polen, das jetzt „ungeheuer aufrüstet“ und auf 300.000 Soldaten aufstockt. Über 1.000 Panzer hätte Polen in Südkorea bestellt, Hunderte Flugzeuge und Artilleriesysteme. Auch Schweden habe zu Luft und Land hohe Kapazitäten, wenn auch mit geringer Mannschaftsstärke, und Finnland verfüge über die beste Reservearmee Europas.

Finnland und die Veränderung auf dem Nuklearsektor

Durch diese Veränderungen sei die Ostsee ein NATO-Binnenmeer geworden, mit nur zwei schmalen Zugängen für Russland: die Oblast Kaliningrad und die Region bei St. Petersburg und Wyborg.

Daraus ergebe sich eine neue strategische Perspektive. Finnland hat eine 1.300-Kilometer-Grenze mit Russland. Ganz im Norden dieser Grenze befindet sich Murmansk, der wichtigste eisfreie Hafen Russlands – der zudem Standort der russischen U-Boot-Flotte ist, erklärte Fasslabend.

Auf der Halbinsel Kola sei auch der wichtigste Standort der Nuklearkapazitäten Russlands. Dazu müsse man wissen, dass „zwei Drittel der nuklearen Zweitschlagfähigkeit von der See aus erfolgt, das heißt von den U-Booten aus erfolgt“.

Von Finnland aus gebe es „Zugriffsmöglichkeiten und Unterbrechungsmöglichkeiten“, so der Ex-Verteidigungsminister Österreichs. Durch eine NATO-Mitgliedschaft Finnlands werde es also eine „frappante Veränderung der geostrategischen Situation auf dem Nuklearsektor“ geben.

Neue Rollen für Polen, Deutschland und die Türkei

Polen würde durch seine Lage und Aufrüstungsbemühungen nun zum Zentrum der Verteidigung Europas und Deutschland verliere erstmals de facto seine geostrategische Zentralität und werde de facto zum Hinterland. Werner Fasslabend, der frühere Verteidigungsminister Österreichs, sagt:

Das ist wirklich eine Zeitenwende, ein geschichtlicher Moment allererster Ordnung.“

Das habe auch längerfristig politische Konsequenzen, auch wenn das im Moment noch nicht ersichtlich sei. Doch es gebe noch eine weitere Veränderung im Süden. Die Türkei sei im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine als Moderator aufgetreten. Die Türkei habe sich aber auch immer stärker aus dem Zentrum des NATO-Verbandes entfernt.

Erdogans Großmachtpolitik weise zweifellos darauf hin, dass die Interessen nicht so sehr im westlichen Verbund lägen, sondern eher in der Schaffung eines eigenen, zumindest regionalen Großmachtbereiches – vom Balkan, über den Kaukasus, Zentralasien, in den Nahen Ost und nach Nordafrika.

Das werde in Zukunft zweifellos die Lage auch verändern, so der Fachmann. Das seien auch überwiegend die Gebiete, die das geostrategische Hauptinteresse Russlands bilden. Im Moment ergebe sich eine „recht gute Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland“, langfristig sei das aber eine Rivalität, die nicht zu unterschätzen sei.

Neue Sicherheitspolitik für Berlin und Paris

Auf Europa bezogen stellt Fasslabend fest: Die Gefahr aus Russland sei durch die vier Länder des NATO-Ostschilds fixiert. Auf den Balkan, Nordafrika, Zentralasien und den Nahen Osten müssten sich aber Berlin und Paris konzentrieren, einen „echten Schulterschluss“ bilden. Das sei die Aufgabe der europäischen Sicherheitspolitik.

Dann hat Europa auch eine Chance, eine Rolle zu spielen.“

Gleichzeitig sei das schwierig: „Auf der einen Seite eine Postkolonialmacht und auf der anderen Seite ein Land, das vergessen hat, dass es auch in der Sicherheitspolitik eine Aufgabe hat. Trotz aller Geschichte.“ Es sei sicherlich der Zeitpunkt gekommen, umzudenken.

Die globale Situation

Eine der größten Stärken Russlands sei dessen militärische Stärke gewesen, auch im konventionellen Bereich. „Die ist von uns allen enorm überschätzt worden“, so Fasslabend. Das sei ein Imageverlust allererster Ordnung auf der gesamten Welt.

Aus dieser militärischen Schwäche resultiere auch eine politische Schwäche, was Auswirkungen auf die bisherigen Einflussgebiete Russlands habe – „dort, wo Regionen im Gegensatz zu den Interessen der Türkei stehen“. Und Russland sei auch durch die Folgen des Ukrainekriegs und die Sanktionen gezwungen, sich wirtschaftlich an China zu orientieren.

Andererseits habe der Ukrainekrieg zu einer militärischen Wiederannäherung zwischen den USA und Europa geführt. Man habe also auf der einen Seite die USA und Europa und auf der anderen Seite China und Russland. Das alles werde noch viele Jahre Auswirkungen auf verschiedensten Gebieten haben.

Im Falle Indiens meinte Fasslabend, dass das Land immer ein alter Freund von Russland gewesen sei – und das wohl auch bleiben werde, wenn „vielleicht auch nicht in diesem Ausmaß wie bisher“. Es gebe auch viele neue Interessen Indiens, gemeinsam mit Amerika. Doch: „Die indische Karte spielt nur Indien selbst – und sonst niemand.“

Eine Sache war Fasslabend noch wichtig zu sagen: „Was mir richtig Sorgen macht, das ist die Struktur der russischen militärischen Einheiten.“ Die Wagner-Gruppe von Prigoschin habe 50.000 Mann in Russland. „Was wird mit dieser Anzahl und dieser Ausbildung nach einem Ukrainekrieg geschehen?“ Darüber müsse man sich heute schon Gedanken machen. Rein von der Anzahl her sei das schon mehr, als der Daesh (IS) und Al-Qaida je gehabt hätten.

Statt Blitzsieg, Dauerkämpfe und Zermürbung

Ein weiterer Sprecher war Oberst Martin Reisner vom österreichischen Generalstab. Die Frontlinie der Ukraine zu Russland verlaufe über 1.100 Kilometer, erklärte der Historiker und Militärexperte zunächst, um auch die Dimension des ukrainischen Abwehrkampfes zu verdeutlichen. Russland hatte seinen Angaben zufolge zu Beginn der Invasion rund 190.000 Soldaten eingesetzt. Wie Reisner einschätzte, sei diese Truppenstärke in Anbetracht der Größe der Ukraine zu gering gewesen. Auch habe man nicht mit dem massiven Widerstand der Ukraine gerechnet.

Zu Beginn der Invasion hatte Russland die Idee, mit einem „Enthauptungsschlag eine Entscheidung herbeizuführen“. Man wollte die politische und militärische Führung der Ukraine ausschalten. Nachdem diese Taktik eines gezielten Vorstoßes „schnell, schmal und tief“ nicht funktioniert hatte, änderte Russland seine Taktik, verlagerte massiv Truppen und setzte auf eine breitere Front im Donbass mit großem Artilleriefeuer.

Der Einsatz von zwei gelieferten amerikanischen Mehrfachraketenwerfern, die gegen die russischen Munitionsdepots eingesetzt wurden, brachten der Ukraine die Möglichkeit, in die Offensive gehen zu können. Russland sei dann in eine Phase übergegangen, die ukrainische Infrastruktur mit Raketen und Drohnen anzugreifen.

Laut Reisner seien dabei anfangs circa 530 ballistische Raketen und Marschflugkörper eingesetzt worden, etwa so viele, wie die USA 2003 im Irakkrieg eingesetzt hätten. Aktuell sei man bei etwa 5.200 eingesetzten Raketen, was es laut dem Historiker in der Kriegsgeschichte in dieser Form noch nie gegeben habe. Dies habe zu einer großen Zerstörung der kritischen Infrastruktur der Ukraine geführt.

Amerikas Salamitaktik?

Der Oberst erklärte an dieser Stelle, dass es „nicht nur an Panzern hängt, ob die Ukraine diesen Weg weiterführen kann, sondern an eine Reihe von anderen Waffensystemen“ wie etwa Flugabwehrsystemen. Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj, den er zitiert, meinte, dass die Ukraine 300 Panzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Artilleriesysteme benötige, um in die Offensive zu gehen.

Markus Reisner: „Wir haben jetzt Zusagen von knapp 150 Panzern, also die Hälfte, ca. 100 Schützenpanzern […] und 70 Artilleriesystemen.“ Der Militärexperte nannte ein weiteres Beispiel. Die Ukraine habe 50 bis 100 amerikanische Himars-Systeme angefordert, leichte Mehrfachraketenwerfersysteme. Damit hätte aus militärischer Sicht ein „durchschlagender Erfolg“ erzielt werden können. Geliefert hätten die Amerikaner aber nur 20.

Reisner fragt: „Warum?“ – und auch, warum es keine Kampfflugzeuge gebe und keine weiteren Präzisionswaffen? Die Antwort sei, dass die USA nicht an einer Eskalation interessiert wären. „Immer wenn es für die Russen gut läuft, zieht Amerika nach.“

Der Militär meinte, je länger die Ukrainer gezwungen seien, nicht in die Offensive gehen zu können, desto mehr Möglichkeiten habe Russland, die personelle Schwäche von Anfang des Kriegs auszuräumen und weitere Soldaten für den Krieg einzuziehen – „und möglicherweise selbst in die Offensive [zu] gehen“.

Wähle: Mitkämpfen oder Krieg beenden

Reisner wollte abschließend noch einige Worte des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus mit auf den Weg geben: „Krieg – das ist zuerst die Hoffnung, daß es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartungen, daß es dem anderen schlechter gehen wird, dann die Genugtung, daß es dem anderen auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechter geht.“

Oberst Reisner blickt nach vorn: „Wenn man möchte, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, dann kann man das nicht herbeiführen, indem man weiter lamentiert.“

Man müsse sich entscheiden: Entweder man müsse „Schulter an Schulter mit der Ukraine“ in diesen Konflikt eintreten – oder man müsse sich als „postheroische Gesellschaft“ eingestehen, dass man das nicht möchte. „Aber dann müsste man alles dransetzen, diesen Krieg zu beenden“, so Reisner. Es gebe nur diese zwei Möglichkeiten.



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