„Die Ruhe vor dem Sturm“: Politikprofessor Werner J. Patzelt über das Dilemma der CDU

Der Dresdner Politikprofessor Werner J. Patzelt analysiert seit vielen Jahren das politische Geschehen in Deutschland. Über Sachsens Landesgrenzen hinaus bekannt wurde er vor allem durch seine nüchternen Betrachtungen der Pegida-Bewegung und einer aufstrebenden AfD, was ihm nicht immer nur Freunde eingebracht hat. Als Mitglied der CDU und der Werteunion zieht er heute eine kritische Bilanz über 16 Jahre CDU unter der Regierung von Angela Merkel.
Titelbild
Foto: André Wirsig für die TU Dresden (Mit freundlicher Genehmigung von W. Patzelt)
Von 7. April 2021

Epoch Times: Herr Patzelt, nach den Maskenskandalen der vergangenen Wochen ist es jetzt erstmal etwas ruhiger um die CDU geworden. Oder täuscht das? Wie würden Sie das Dilemma beschreiben, in dem sich die Partei derzeit befindet? Gibt es überhaupt noch einen Weg heraus?

Werner J. Patzelt: Nun, es ist die Ruhe vor dem Sturm, nämlich vor der Festlegung auf den Kanzlerkandidaten und dem anschließenden Wahlkampf. Auf den wird etlichen Einfluss haben, dass jetzt – zum ersten Mal seit 2019 – die AfD bei den Umfragen wieder vor der CDU liegt. In dieser Lage weiß die Union schlicht nicht, welchen Kurs sie einschlagen soll, um weiterhin erfolgreich zu sein. Immerhin dämmert ihr, dass ein „Weiter so“ sie noch mehr nach unten ziehen wird.

Erschwert wird eine Neubestimmung des CDU-Kurses durch die in dieser Partei weit verbreitete Überzeugung, der bisherige Kurs der Partei wäre eben doch der alternativlos richtige gewesen. Zur jetzigen Schwächeperiode der CDU habe jedenfalls nur eine mangelhafte Abgrenzung gegenüber der AfD samt der unzulänglichen Bereitschaft geführt, sich systematisch auf grüne Positionen einzulassen. Außerdem ignoriert ein großer Teil der CDU, dass die lange Zeit so guten demoskopischen Werte dieser Partei vor allem persönliche Sympathiewerte für die Kanzlerin waren, die im Wesentlichen das tat, was die veröffentlichte Meinung von ihr wünschte. Vom Merkel-Bonus hat aber die getreue Partei der Kanzlerin fortan nicht mehr viel, weil viele zwar Angela Merkel mögen, doch niemals eine merkellose CDU wählen würden. Mir scheint: Die CDU-Führung schätzt die Lage der eigenen Partei weiterhin falsch ein und macht deshalb auch eine in Misserfolge führende Parteipolitik.

ET: Gibt es inzwischen innerhalb der Partei eine größere Abgrenzung zur Kanzlerin?

Patzelt: Es wächst zwar allmählich die Einsicht, dass die Kanzlerin im Wahlkampf zur Hypothek werden könnte. Doch von bisherigen Gefühls- und Denkgewohnheiten wollen sich die meisten an der CDU-Spitze einfach nicht lösen. Teils die Verehrung für die Kanzlerin, teils die Angst vor ihrem Einfluss reichen bislang so weit, dass ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident Söder unlängst erklärt hat, die Kanzlerkandidatenfrage könne nur im Einvernehmen mit der in einigen Monaten scheidenden Kanzlerin geklärt werden – denn nur mit ihrer Unterstützung wäre ein erfolgreicher Wahlkampf möglich. Die Abhängigkeit der Union vom Denken und dem Machtnetzwerk Merkels ist also ungebrochen – und wird zur immer größeren Provokation all jener, die sich gerade wegen Angela Merkel von der Union abgewandt haben.

ET: Glauben Sie an einen Machtwechsel dieses Jahr in Deutschland?

Patzelt: Ich halte ihn nicht mehr für ausgeschlossen. Allerdings wurde das Aufkommen einer durchschlagenden Wechselstimmung verlangsamt durch die Entscheidung der Grünen in Baden-Württemberg, der ihnen gegenüber höchst demütig auftretenden CDU doch noch einen Platz am Kabinettstisch zu gewähren. Also wird die CDU im Wahlkampf den Grünen erst recht aus der Hand fressen.

ET: Welche Faktoren spielen beim möglichen Niedergang der CDU ihrer Meinung nach eine wesentliche Rolle?

Patzelt: Für deren Auswahl und Gewichtung gibt es verschiedene Motive. Über zwei Drittel der deutschen Journalisten neigen den Grünen, den Sozialdemokraten sowie der Linken zu und hätten wenig lieber, als dass die Bundes-CDU wieder in die Opposition geschickt wird. Also führt man den Niedergang der CDU auf deren immer noch nicht ausreichend grünen und linken Positionen zurück, berichtet über die Grünen mit besonders großer Sympathie und verstärkt so den anschließend demoskopisch messbaren Trend weg von der CDU. Innerhalb der CDU verweisen insbesondere jene auf den Niedergang der CDU, die – wie ich – der Ansicht sind, dass die Schwäche dieser Partei ganz wesentlich auf den Verlust ihrer Bindungskraft hin zum rechten Rand zurückgeht. Weil die inhaltlichen Argumente für die Position bislang auf Unglauben trafen, erwartet man eine Belehrung durch die Fakten angesichts jener Niedergangserfahrungen, die in diesem Wahljahr ganz unausweichlich sein werden; und zugleich hofft man auf die Möglichkeit, dass es angesichts dieser realen Gefahr doch noch zum rechtzeitigen Umdenken kommen könnte. Und dann gibt es noch die rein taktische Funktionalisierung des Niedergangs der CDU: Wie muss man sich heute aufstellen, damit man nicht nach dem kommenden Debakel mit dem Vorwurf konfrontiert wird, nichts zu dessen Abwendung unternommen zu haben? Und wie schützt man sich gegen kommende Zweifel an der eigenen politischen Intelligenz, falls man sich in früheren Debatten über den Merkel-Kurs auf eine bestimmte Weiser verhalten oder geäußert hat?

ET: Welche Rolle spielt die Werteunion in diesem Moment?

Patzelt: Die Werteunion ist ganz offensichtlich mit dem Versuch gescheitert, die CDU rechtzeitig wieder auf einen Kurs zu bringen, der nicht in den demoskopischen und politischen Niedergang führt. Der Vorsitzende Alexander Mitsch wirft sogar das Handtuch. Manche in der Werteunion empfinden, man könne fortan nicht mehr glaubwürdig für die CDU eintreten. Manch andere plädieren sogar für die Gründung einer neuen Partei zwischen heutiger CDU und AfD. Meinerseits halte ich das weder für wünschenswert noch für aussichtsreich. Vielmehr gehöre ich zu denen, die ihre Hoffnungen darauf richten, dass die absehbar eintretenden Wahlniederlagen der CDU eine Bereitschaft dafür schaffen, über Fehler der Vergangenheit endlich aufrichtig zu sprechen und aus deren Begreifen dann solche Konsequenzen zu ziehen, welche die Union wieder erfolgreich machen. Einstweilen spielt die Werteunion gleichsam die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie. Der spricht meist klagend vom üblen Schicksal, das die Götter über gleich wen verhängt haben, auch von der Blindheit, mit dem da jemand geschlagen ist, kann aber am sich absehbar entfaltenden Schicksal nicht das mindeste ändern. Und am Schluss Recht behalten zu haben, nützt dann eben auch nichts mehr.

ET: Wollen Sie eine Prognose betreffend dem Ausgang der Bundestagswahlen abgeben?

Patzelt: Da lässt sich noch gar nichts vorhersagen. Alles ist bislang im Fluss. Wir wissen nicht, wer der Kanzlerkandidat der Union wird und welche Positionen er vertreten wird. Wir wissen nicht, wie lange Angela Merkel ihren prägenden Einfluss auf die Union und ihren Wahlkampf behalten wird. Wir wissen nicht, ob die Corona-Politik der Union im Herbst mit gewachsener Empörung oder mit einer gewissen Dankbarkeit gewürdigt wird. Wir wissen nichts über kommende Wahlkampffinten von SPD und Grünen. Und wir wissen nicht, ob sich die AfD weiterhin im rechtsdemagogischen Abseits aufhalten oder zu einer – noch mehr als heute – wählerwirksamen Konkurrenz der Union werden wird. Und weil alle diese Entwicklungen wechselseitig aufeinander wirken, lässt sich derzeit wirklich nichts Verlässliches voraussagen.

ET: Demnach ist noch alles offen?

Patzelt: Das wäre eine zu starke Behauptung. Denn durchaus ist nicht zu erwarten, dass die CDU wieder zur alten Stärke zurückfinden wird. Die nämlich gehört nach der merkelschen Kanzlerschaft und dem davon bewirkten Aufstieg der AfD mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Vergangenheit an.

ET: Was erwartet uns bei einer Grünen-Regentschaft?

Patzelt: Ein Rendezvous der Grünen mit der Wirklichkeit. Entsinnen Sie sich des Antritts der rot-grünen Schröder-Regierung? Mit großer Euphorie wurde sie begrüßt, und stark waren die Hoffnungen, dass nun eine sich ganz von Helmut Kohls Zeiten absetzende Periode wahrhaft zukunftsgerichteter Reformen einsetzen würde. Dann gab es schon nach den ersten drei Monaten einen gigantischen demoskopischen Absturz. Und als sich die SPD tatsächlich auf die Wirklichkeit eingelassen hatte und mit der Agenda 2010 begann, setzte ihr Verzwergungsprozess ein.

Jedenfalls werden viele Träume schmerzhaft platzen, die mit einer grün geführten Bundesregierung verbunden sind. Gerade bei deren heutigen Befürwortern wird es große Erbitterung wegen der absehbaren Enttäuschung so vieler Hoffnungen geben. Doch die CDU wird davon kaum profitieren können. Sollte sie nämlich mitregieren, wird ihr bei allem Scheiternden große Mitschuld daran zugeschrieben werden – während die Journalistenschaft bei gelingenden Politikprojekten das grüne Original, nicht aber die ehedem schwarze Kopie loben wird. Und befindet sich die CDU ab dem Herbst ohnehin in der Opposition, dann wird sie der Streit darüber lähmen, was das wohl einesteils mit Merkels Erbe und andernteils dem Umgang mit ihm zu tun hat.

Bei alledem wird einen sehr großen Unterschied machen, wie sich die AfD verhält. Wenn sie weiterhin ihren Radikalisierungsprozess vorantreibt, verschafft sie der CDU noch eine kleine Chance, sich als Gegengewicht zu den Grünen zu stabilisieren. Sollte sich die AfD aber in überzeugender Weise auf den Meuthen-Kurs begeben, dann ist es um die einstige Dominanz der CDU rechts der politischen Mitte geschehen. Gerade als Teil einer schwarz-grünen Regierung wäre sie dann auf dem Schicksalsweg der SPD – nämlich auf dem nach unten.

ET: Wer könnte am Ende von einem Untergang der CDU profitieren?

Patzelt: Unser Land gewiss nicht, das doch ganz zu seinem Vorteil jahrzehntelang von einer pragmatischen, von der Mitte bis zum rechten Rand integrationsfähigen CDU regiert wurde. Profitieren würde nur eine AfD, die es schaffte, sich als möglicher Bündnispartner der CDU aufzustellen und jene Repräsentationslücke in respektverschaffender Weise – also anders als heute – zu schließen, welche die Merkel-CDU wider viele Warnungen hat aufreißen lassen. Ich bezweifle allerdings sehr, dass eine solche AfD entstehen wird. Sie ist nämlich zu einem Sammelbecken derer geworden, die nicht nur von der Union enttäuscht sind, sondern die ihre Enttäuschung auch in Empörung und Selbstradikalisierung umgesetzt haben. Also vermute ich, dass nach den 16 Merkel-Jahren und dem die eigene Parteigeschichte krönenden Machtaufstieg der Grünen unser Land in eine ziemlich üble Katerstimmung geraten wird – ähnlich wie Frankreich nach dem Zerrinnen jener Hoffnungen, die man vordem in Macron setzte.

ET: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Nancy McDonnell.



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