Die spektakuläre Flucht einer Krankenschwester aus der DDR

Als Ursula Quappe 1962 den Behörden erzählte, wie sie aus der DDR nach Westberlin geflüchtet ist, zeigte man sich verwundert – zu unglaublich klang es. Denn die Berliner Mauer wurde seit ihrem Bau am 13. August 1961 stetig ausgebaut und die Überwachung verschärft. Wie konnte sie die Mauer allein als junge Frau überwinden? Fast 60 Jahre nach der Flucht erzählt sie Epoch Times ihre Geschichte.
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Ein Lock in der Berliner Mauer.Foto: iStock
Von 10. Oktober 2021

Ostberlin 1962: Der 24. Januar ist ein dunkler Winternachmittag. Es ist kalt und nass – Schneeregen und stürmischer Wind durchziehen die Stadt. Wer die Wohnung nicht verlassen muss, bleibt daheim.

Eine 23-jährige Kinderkrankenschwester namens Ursula Quappe zieht es jedoch nach draußen. Sie will aus der DDR fliehen. Es ist die Liebe zu ihrem Freund, die sie antreibt. Er hatte es vor wenigen Monaten geschafft, über die Mauer nach West-Berlin zu flüchten.

Sie will wieder bei ihm sein. Ihr Freund schrieb ihr nach seiner Flucht in einem Brief, dass sie heute zum Spittelmarkt kommen soll. Er würde sich an diesem Platz mit ihr treffen, sich dort bemerkbar machen und ihr bei der Flucht helfen. Mehr wusste sie nicht.

An diesem Tag nahm sie all ihren Mut zusammen und machte sich auf den Weg, der nicht ungefährlich war. Sechs Monate nach dem Mauerbau waren bereits mehrere Tote zu beklagen, die beim Fluchtversuch von DDR-Grenzsoldaten erschossen wurden.

„Einzig meinen Pass und Fahrgeld trug ich bei mir, damit ich hin- und zurückkomme, falls die Flucht misslingt“, erzählt die heute 83-Jährige.

Abschied von der Mutter

Noch immer bewegt durch die damalige Situation erzählt Ursula Quappe von ihrer Verabschiedung von der Mutter, die damals in Berlin-Karow alleine lebte. Der Vater war bereits verstorben.

„Ich war furchtbar aufgeregt und traurig. Meine Mutter fragte mich: ‚Weißt du, was da passiert, wenn sie dich kriegen?‘ Ich sagte daraufhin: ‚Ja, Mama, aber egal, ich will‘s versuchen.‘“

Ursula hatte ihre Mutter nur ungern zurückgelassen, denn diese war allein und lebte nur von einer kleinen Witwenrente. Doch beide waren gleichermaßen verzweifelt gewesen über die Tatsache, „dass man alle in der Sowjetzone jetzt plötzlich einsperrte und man nicht mehr rauskommt“. Ihre Mutter sei damals verständnisvoll mit ihr umgegangen, erinnert sie sich.

Das SED-Regime begründete die Abriegelung der Ostzone am 13. August 1961 unter anderem mit einem „ständig steigenden Flüchtlingsstrom“ aus der DDR. Ein geringeres Lohnniveau und ein eingeschränktes Warenangebot in der DDR zogen die Menschen in den Westteil der Stadt. Auch war die Versorgungslage, selbst bei Grundnahrungsmitteln durch Zwangskollektivierung der Privatwirtschaft und Misswirtschaft im Osten eingeschränkt. Auch Ursulas Bruder hatte noch vor dem Mauerbau Ost-Berlin verlassen und lebte in West-Berlin.

Erich Honecker, der damalige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates und spätere Generalsekretär des Zentralkomitees der SED sowie Vorsitzende des Staatsrats, leitete die Errichtung der Grenzanlage.

„Ich wusste nicht, was auf mich zukommt“

Am Tag der Flucht, etwas mehr als fünf Monate nach der Abriegelung von Ost-Berlin, kam die junge Krankenschwester gegen 15 Uhr schließlich am Spittelmarkt an. Überall standen Absperrungen. „Ich wusste gar nicht, was jetzt auf mich zukommt, ich hatte keine Ahnung“, erinnert sie sich.

Ihr Freund hatte geplant, dass ein Fluchthelfer sie in die Aktion einweiht. Doch der kam nicht. Im Brief gab es keine konkreten Anweisungen für sie.

„Ich bin so unbedarft in diese Situation reingegangen. Und dann habe ich erst einmal geguckt, wo DDR-Grenzsoldaten sind und habe mich dann immer und immer wieder vor denen versteckt – mal hinter Autos, mal in den angrenzenden Häusern.“

Mittlerweile war es dunkel. Doch der Grenzbereich war hell erleuchtet. Die Posten liefen in Fünfergruppen hin und her. Auch in Treppenfluren oder Kellern versteckte sie sich vor ihnen. Die Fenster der angrenzenden Häuser waren in den unteren Etagen zugemauert, die oberen Stockwerke waren noch bewohnt. „Und dann sah ich da eine Zigarette aufglimmen und da noch eine. Ich bin von jeder Seite aus von den Hausbewohnern beobachtet worden. Aber keiner hat die Polizei gerufen.“

Der Unmut in der Bevölkerung im Osten über die Abriegelung war groß. Noch am 3. Oktober 1961 flüchtete ein ganzes Dorf aus der DDR in die Bundesrepublik. Die Bewohner von Böseckendorf im Harz (Thüringen) machten sich in der Nacht auf den Weg über die Grenze. 16 Familien mit 22 Kindern, insgesamt 53 Menschen, kamen bei Duderstadt wohlbehalten in Westdeutschland an.

Sie schauten sich schweigend in die Augen

Plötzlich tauchte eine Person auf und die junge Krankenschwester versteckte sich schnell hinter einer offenen Haustür. Ein Mann mittleren Alters kam herein und betätigte direkt neben ihr den Lichtschalter. Er sah sie und erschrak. Auch sie zuckte zusammen. Sie war sprachlos und brachte kein Wort heraus. Auch der Mann sagte nichts. Sie schauten sich beide schweigend in die Augen. Dann ging er die Treppe hinauf.

Die DDR-Grenzposten standen immer noch draußen vor dem Haus, nur ein Stück weit entfernt. So blieb sie weiter im Haus, ohne zu wissen, was nun passieren würde. Ruft er bei der Polizei an? Verrät er sie an die Grenzsoldaten draußen vor der Tür?

Draußen war die Fünfergruppe der Grenzer weiter unterwegs, alle aufgrund des ungemütlichen Wetters mit tief über den Kopf gezogenen Kapuzen. Sie blieben von Zeit zu Zeit stehen und unterhielten sich. Die Gewehre hingen über ihren Schultern.

Oben ging eine Wohnungstür auf. Ursula rannte in den Kohlenkeller und versteckte sich hinter einer Tür. Der Mann von gerade eben kam die Treppen hinunter.

Er öffnete die Tür zum Kohlenkeller mit einem Eimer in der Hand und trat ein. Er erblickte sie und fragte: „Suchen Sie etwas Bestimmtes, Fräulein?“ Ursula konnte nicht antworten. „Ich habe keinen Tropfen Spucke mehr im Mund gehabt. Ich konnte nichts sagen. Ich habe ihn nur angestarrt und ging wieder nach oben.“

Der Mann befüllte seinen Kohleneimer und ging schweigend wieder hinauf in seine Wohnung.

Im Stacheldraht verfangen

Ursula sah jetzt, dass die Grenzpatrouille verschwunden war. Sie ging aus dem Haus heraus ins Freie. Zigaretten glimmten hinter den Scheiben erneut auf. Sie sah Menschen in den Wohnungen, die sie beobachteten.

Die Uniformierten waren weiter weg. Ursula versteckte sich erneut hinter und unter Fahrzeugen. Militär-LKW standen aufgereiht da. Durch den Kohlenkeller und das Kriechen unter Fahrzeugen war ihre Kleidung schmutzig geworden.

Dort, nahe der Mauer und dem Todesstreifen, war durch Scheinwerfer alles hell erleuchtet, auch die Hausfassaden der angrenzenden Gebäude. Das sollte das Erkennen von Fluchtversuchen und den gezielten Einsatz von Schusswaffen erleichtern.

Ursula sah plötzlich durch einen Spalt in der Grenzmauer von der Westberliner Seite her ein Taschenlampenlicht aufleuchten. Damals gab es an diesem Abschnitt bereits eine massive Mauer, die allerdings noch Risse und Spalten aufwies. Die Mauer war zusätzlich mit einem Stacheldrahtzaun gesichert, der sich davor befand.

Das musste ein Zeichen sein, dachte sie und rannte auf das Licht zu. Dabei verfing sie sich im Stacheldraht. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn über den Stacheldraht, um ihn zu überwinden. An einer Laterne, an dem der Stacheldrahtzaun angebracht war, zog sie sich nach oben. Über die einzelnen Drähte am Laternenmast stieg sie wie auf einer Leiter aufwärts und überwand den Drahtzaun schließlich. Er war der eigentlichen Grenzmauer mehrere Meter vorgelagert.

Noch bevor sie an der eigentlichen Grenzmauer ankam, sah sie, wie plötzlich von der Westberliner Seite aus eine kleine Leiter  – befestigt an einem Seil – zu ihr heruntergelassen wurde. „Ich bin dann an der Leiter hochgeklettert und habe mich über die Mauer rübergezogen. Mein Freund hatte den Stacheldraht in Form eines ‚spanischen Reiters‘, der auf der Mauer angebracht war, durchgeschnitten. Dadurch konnte ich mich gut hochziehen.“ Ihr Freund und ein weiterer Helfer halfen ihr von der anderen Seite aus.

„Ich bin völlig gefühllos gewesen“

Beide Helfer hatten stundenlang in der Kälte gewartet. „Sie hatten mich nicht gesehen und dann waren die Grenzposten da“, erzählt sie weiter. „Dann war ich drüben und war irgendwie wie tot. Ich hab‘ mich nicht gefreut. Ich konnte nicht sprechen, nicht weinen. Ich habe meinen Freund auch nicht umarmen können oder irgendwas.“

Er jedoch umarmte sie und freute sich. „Aber ich hab‘ nur dagestanden und hab‘ auch nicht die Kälte gespürt. Ich hatte ja eigentlich nur noch einen Pulli an. Ich bin völlig gefühllos gewesen. Ich habe nur gedacht: ‚Ich habe es geschafft!‘“ Ihr Freund gab ihr seine Jacke, als er sah, wie sie zitterte.

Schnell gingen sie von der Mauer fort. Auf dem Weg zur Wohnung ihres Freundes hielten sie am Postamt an. Ursula wollte unbedingt ein Telegramm an ihre Mutter schicken, die sich Sorgen machte. „Mein Freund hat dann ein Telegramm aufgegeben: ‚Gesunde Tochter angekommen‘, hieß es darin.“

Das war unverfänglich, denn es hätte auch eine Mitteilung zur Geburt eines Kindes sein können. Später erfuhr sie von ihrer Mutter, dass diese am Fluchttag zu einer Freundin gegangen war, weil sie es zu Hause allein nicht ausgehalten hatte. Während sie sich mit der Nachbarin unterhalten habe, sei ein Schmetterling vorbeigeflogen, das habe ihr Hoffnung gegeben, erzählt sie später der Tochter.

„Er hatte gedacht, sie haben mich erschossen“

Zwei Tage später besuchte Ursula zusammen mit ihrem Freund ihren Bruder. Ihr Freund wollte sich einen Scherz mit ihm erlauben und gab sich als Betrunkener aus. Ursula wartete unten. Als der Bruder die Tür öffnete, wiederholte ihr Freund lallend mit ernster Mimik immer wieder den Namen „Ursula“. Ihr Bruder wurde aufgeregt und fragte: „Was ist passiert? Was ist mit ihr?“

Dann ging die Tür zu und Ursula hörte nichts mehr. Sie ging nach oben und drückte selbst auf den Klingelknopf. Ihr Gesicht versteckte sie hinter einem Regenschirm. „Als mein Bruder dann die Tür öffnete und ich den Schirm langsam herunterließ, dachte ich, er bekommt einen Herzinfarkt. Der hat mich angeguckt! Das werd ich nie vergessen – völlig erstarrt und fassungslos! Er hatte gedacht, die haben mich erschossen!“

Als sie dann in die Wohnung gingen, saß ihr Freund da, weinte und schluchzte und konnte nicht mehr sprechen. Sie setzte sich zu ihm und erst jetzt löste sich ihre Anspannung und sie begann zu weinen. „Plötzlich brachen diese Gefühle aus uns beiden heraus. Wir konnten gar nicht sprechen. Mein Bruder war völlig hilflos. Der war natürlich auch unglaublich wütend auf meinen Freund, weil er ihm am Anfang etwas vorgespielt hatte“, blickt Ursula zurück.

Heute, fast 60 Jahre nach ihrer Flucht nach West-Berlin, ist sie sich sicher: „Wenn ich nicht ständig an ihn hätte denken müssen, nachdem er die DDR verließ, und sein Brief nicht gewesen wäre, hätte ich eine Flucht nicht gewagt. Es war die richtige Entscheidung, damals zu flüchten und meinem späteren Ehemann zu folgen.“

Ihre Augen strahlen wach und klar in dem vom Leben gezeichneten Gesicht. Sie lächelt dankbar.

Die damals 23-jährige Ursula Quappe arbeitet nach ihrer Flucht aus der DDR zunächst weiter als Krankenschwester. Foto: privat



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