„Ein Ruck muss durch das Land gehen“ sagte Bundespräsident Roman Herzog 1997

Die Berliner Rede von 1997 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog wurde von uns in Auszügen im Oktober 2005 zitiert. Wir wiederholen diesen Artikel anlässlich des Todes von Roman Herzog im Alter von 82 Jahren. Link zum ganzen Wortlaut unter dem Artikel.
Titelbild
Altbundespräsident Roman Herzog ist im Alter von 82 Jahren gestorben.Foto: Daniel Naupold/dpa
Epoch Times10. Januar 2017

27. Oktober 2005: Anlässlich der Ehrung von Altbundespräsident Roman Herzog zitieren wir einige Auszüge aus seiner berühmten Rede, die immer noch aktuell ist.

Berliner Rede 1997 von Bundespräsident Roman Herzog: „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“

Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertig zu werden. Unser deutsches Wort „Angst“ ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. „Mut“ oder „Selbstvertrauen“ scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein. Unser eigentliches Problem ist also ein mentales. […]

Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal. 20 Jahre haben wir gebraucht, um den Ladenschluss zu reformieren. Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit werden wir mit diesem Tempo ganz gewiss nicht bewältigen. Wer 100 Meter Anlauf nimmt, um dann zwei Meter weit zu springen, der braucht gar nicht anzutreten. […]

Mit dem rituellen Ruf nach dem Staat geht ein – wie ich finde – gefährlicher Verlust an Gemeinsinn einher. Wie weit sind wir gekommen, wenn derjenige als clever gilt, der das soziale Netz am besten für sich auszunutzen weiß, der Steuern am geschicktesten hinterzieht oder der Subventionen am intelligentesten abzockt? Und jeder rechtfertigt sein Verhalten mit dem Hinweis auf die anderen, die es – angeblich – ja auch so machen. […]

Stattdessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Wir leiden darunter, daß die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach „idiotisiert“. Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-Stufen-Programm:

1. Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.

2. Die Medien melden eine Welle „kollektiver Empörung“.

3. Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.

4. Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.

5. Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.

6. Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur „Besonnenheit“.

7. Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.

Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. […]

Ich vermisse bei unseren Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen die Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen. Es kann ja sein, daß einem einmal der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst. Unser Land befindet sich aber in einer Lage, in der wir es uns nicht mehr leisten können, immer nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. […]

Und wieder glaube ich an die jungen Leute. Natürlich kenne auch ich die Umfragen, die uns sagen, daß Teile unserer Jugend beginnen, an der Lebens- und Reformfähigkeit unseres „Systems“ zu zweifeln. Ich sage ihnen aber: wenn ihr schon „dem System“ nicht mehr traut, dann traut euch doch wenigstens selbst etwas zu!

Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.

Berliner Rede 1997: „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“, Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog im Hotel Adlon am 26. April 1997.

Den ganzen Wortlaut finden Sie unter: www.bundespraesident.de



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion