„Eine Corona-Aufarbeitung ist nötig, um die schweren Verwerfungen in unserer Gesellschaft wieder zu beseitigen“

FDP-Politiker fordert die Gründung von mindestens einer Enquete-Kommission. Der 70-Jährige kritisiert unter anderem das „beispiellose Versagen“ der Medien.
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Wolfgang Kubicki fordert eine politische Aufarbeitung der Corona-Krise.Foto: Getty Images/Adam Berry
Von 14. Dezember 2022

Wolfgang Kubicki hält eine parlamentarische Aufarbeitung der Corona-Jahre für dringend nötig. In einem Beitrag der „Berliner Zeitung“ fordert der Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Stellvertretende Vorsitzende der FDP eine umfassende Debatte. Dabei sei auch die Rolle der Medien und des Robert Koch-Instituts (RKI) kritisch zu beleuchten. „Seit dem vergangenen Herbst und Winter hat sich nach meinem Empfinden etwas Entscheidendes verändert. Eine enorme Erschütterung ging durch die bereits arg coronagepeinigte bundesdeutsche Gesellschaft, die für viele bis heute nachwirkt“, zitiert ihn die Zeitung.

Grausame Kraft der Ausgrenzung

Kubicki berichtet von der Begegnung mit einer Frau am Rande einer Veranstaltung vor wenigen Wochen. Sie habe ihm dafür gedankt, dass es keine allgemeine Impfpflicht gegeben habe. „Solche persönlichen Erlebnisse habe ich seit der erregten Debatte um die allgemeine Impfpflicht immer wieder“, sagt der 70-Jährige. Diese Leidensschilderungen zeigten ihm nicht nur, „wie grausam die Kraft der Ausgrenzung in jenen Tagen auf viele gewirkt hat, sondern auch, wie wenige Identifikationsfiguren und Anknüpfungspunkte diese Menschen im öffentlichen Diskurs hatten“. Kaum jemand habe öffentlich Partei ergriffen, um diesen Menschen so etwas wie Halt oder Trost zu spenden.

Vom Diskurs gnadenlos überrollt

Stattdessen habe sie Welteärztepräsident Frank Montgomery zu „Tyrannen“ gestempelt. Kirchen hätten Gläubige mittels 2G ausgesperrt. Sogar das Bundesverfassungsgericht verfügte „2G plus plus“ (also mit aktuellem PCR-Test) in seinen Räumen. Wer individuelle Gründe gegen eine Impfung für sich geltend machen wollte, sei im Diskurs „gnadenlos überrollt, gesellschaftlich geächtet worden. Die Gesellschaft schalt sie als unsolidarisch, es drohten „schwere Nachteile“.

Medialer Sturm nach Interview

Kubicki selbst sei nicht von Ausgrenzung betroffen. „Ich habe mich mittlerweile aus Überzeugung das vierte Mal impfen lassen“, betont er. Dennoch habe er eine Ahnung „von der Wucht dieser Welle“ bekommen, als er sich gegen diese Art des Umgangs wehrte. So habe er einen „medialen Sturm“ erlebt, als er Ende 2021 ein Interview mit der „Zeit“ gab. Dort erklärte er, dass es vielen Befürwortern der Impfpflicht im Hinblick auf die Ungeimpften um „Rache und Vergeltung“ zu gehen scheine. Die Reaktionen hätten alles bisher Erlebte gesprengt. So habe ihn die „Süddeutsche Zeitung“ fast in die Nähe von Rechtsradikalen gerückt. „Mental am Ende“ und „fast im Verschwörerjargon“ redend habe ihn der „Spiegel“ bezeichnet.

Geste der Unterwerfung gefordert

Er sei es gewohnt, öffentlich hart angegangen, beschimpft und beleidigt zu werden. „Ich kann damit umgehen, zumal ich neben den üblichen Morddrohungen damals ‚nur‘ heftigste, zum Teil ekelhafte und ehrverletzende Anwürfe erhielt.“ Kubicki fragt, was man Menschen zugemutet habe, denen in einem solch aggressiven Klima die grundsätzliche gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wurde. Sie seien durch politische Maßnahmen in eine „unentrinnbare Entscheidungssituation“ gebracht worden. „Warum hielt es ein großer Teil der politischen, medialen, gesellschaftlichen Eliten für geboten, von Einzelnen eine solche Geste der erzwungenen Unterwerfung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu fordern als Voraussetzung dafür, dass sie als dessen Teil wieder akzeptiert würden?“

Mogeleien bei Hospitalisierungszahlen

Dass die Ungeimpften zu Unrecht in die Rolle der Allgemeingefährder gebracht wurden, sei spätestens klar geworden, als sich die Berichte über Impfdurchbrüche häuften. Hinzu kam, dass „Die Welt“ Mogeleien einiger Bundesländer bei den offiziellen Hospitalisierungszahlen zulasten der Ungeimpften aufdeckte. „Dass dieser Umstand viele in ihrem Streben nach Vergeltung dann gar nicht mehr interessierte, sprach allen Beteuerungen Hohn, es ginge bei der Bewältigung der Pandemie um die Beachtung der Wissenschaft.“ Es zeige sich, dass viele, die meinten, im gerechten Zorn auf Menschen zeigen zu können, von selbstgerechter Wut getrieben waren.

Unsägliche Bund-Länder-Runden

Viele Journalisten hätten irgendwann nur noch eine festgelegte „coronapolitische“ Erzählung verteidigt. Der Wahrheit auf die Spur gegangen seien sie nicht. Dies sei sogar „politisch kultiviert“ worden. Die regelmäßigen journalistischen Hintergrundgespräche von Regierungssprecher Steffen Seibert an den Tagen vor den „unsäglichen Bund-Länder-Runden“ dienten der Erzeugung einer öffentlichen Stimmung, die die politische Linie Angela Merkels stützte. „Journalisten machten sich damit offenbar zu Verkündern des Regierungsnarrativs und gaben ihre demokratische Aufgabe und ihre journalistische Selbstachtung an der Garderobe des Bundespresseamtes ab.“ Nicht nur das sei ein „beispielloses Versagen, das einer Aufarbeitung bedarf“.

Zweifelhafte Rolle des RKI

Und natürlich müsse auch über die zweifelhafte Rolle des Robert Koch-Instituts (RKI) gesprochen werden. Schon im April 2020 habe er darauf hingewiesen, dass das RKI möglicherweise politisch motivierte Zahlen für die Corona-Politik der Bundesregierung bereitstelle. „Meine damalige Nachfrage im Gesundheitsministerium zu merkwürdig ansteigenden Zahlen im Vorfeld einer Bund-Länder-Runde zeigte, dass mit doppelten Aufrundungen ein R-Wert ‚erzielt‘ wurde, der härtere Grundrechtseinschnitte möglich machte.“ Die Unfähigkeit dieser von vielen als sakrosankt angesehenen Behörde, bis heute Hospitalisierungszahlen „mit“ und „an“ Corona bereitzustellen, offenbare: „Wenn entweder Dilettantismus oder Methode in der miesen Kommunikation des RKI steckt, dann haben wir besonders in der Pandemie ein institutionelles Problem.“

Schwere Verwerfungen beseitigen

Eine Corona-Aufarbeitung sei nötig, „um die schweren Verwerfungen in unserer Gesellschaft wieder zu beseitigen“. Niemand erwarte, dass es bei einer solchen Krisenlage immer zu richtigen Antworten komme. „Auch ich habe zu sehr dem Glauben nachgehangen, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht durch einen relevanten Fremdschutz politisch noch gerade vertretbar sei.“ Im Nachhinein habe er aber festgestellt, dass diese Einschätzung ein Fehler war.

Achtung vor verfassungsmäßiger Ordnung wiederherstellen

Ein demokratischer Staat lebe davon, dass es „klare politische Verantwortlichkeiten gibt, die ebenso klar zugeordnet werden können“. Daher sei die parlamentarische Aufarbeitung dieser „Mega-Krise“ notwendig, „um die Achtung vor unserer verfassungsmäßigen Ordnung wieder herzustellen“. Der demokratische Staat sei ein als selbstlernendes und sich selbst korrigierendes System konstituiert worden. Mindestens eine Enquete-Kommission müsse sich deshalb dieses Themas mit der gebotenen Ruhe und Tiefe annehmen. „Wer meint, dass das nicht nötig sei, unterschätzt die Wunden, die die politischen Entscheidungen bei vielen Menschen hinterlassen haben“, so Kubicki abschließend.



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