Einsamkeit kann schmerzhaft und gesundheitlich riskant sein

Das Thema Isolation rückt stärker in den Fokus von Wissenschaft und Politik. Unterschiedliche Studienergebnisse zu den Folgen während der Corona-Pandemie.
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Der Einsamkeit will die Bundesregierung mit einer neuen Strategie begegnen.Foto: iStocks/Dmitry Berkut
Von 9. März 2023

Wenn der Freundeskreis schrumpft, Partner sterben, die Gesundheit nicht mehr mitmacht oder auch das Geld für Kino und Restaurantbesuche fehlt, können vor allem ältere Menschen schnell in die Einsamkeit abrutschen. Ein Gefühl, das auch Helga Müller aus Berlin-Tempelhof kennt. Ihre Tochter lebt in Athen, die Freunde sind krank, verstorben oder weggezogen. „Ich gehe zwar jeden Tag raus, kaufe ein und mache meine Gymnastik, aber zum Reden fehlt mir jemand“, sagt die 85-Jährige.

Seit fast zwei Jahren kann sich die Rentnerin immerhin auf ein ausgiebiges Gespräch pro Woche freuen. Der in verschiedenen Großstädten aktive Verein „Freunde alter Menschen“ hat ihr Jan Römmler, einen Besuchspaten, vermittelt. „Ich möchte meine Zeit sinnvoll nutzen und anderen schenken“, sagt der 50-jährige gelernte Koch und Frührentner. Man sieht Helga Müller die Freude an. Sie strahlt, als Römmler sie zum Spaziergang abholt.

Familienministerin will Thema stärker beleuchten

Das Thema Einsamkeit rückt immer mehr in den Fokus von Politik und Wissenschaft, schreibt die „Deutsche Presse-Agentur“ (dpa).  Im Juni 2022 gab Familienministerin Lisa Paus (Grüne) den Startschuss für eine „Strategie gegen Einsamkeit“. „Ziel ist es, das Thema in Deutschland stärker zu beleuchten und Einsamkeit stärker zu begegnen“, erklärt Axel Weber. Er gehört dem „Kompetenznetz Einsamkeit“ (KNE) an, das das Ministerium wissenschaftlich unterstützt.

In einer Studie des KNE heißt es, dass vor der COVID-19 Pandemie rund 14 Prozent der Menschen in Deutschland einsam waren. Während der Pandemie sei der Anteil auf 42 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Allerdings wurden alle Menschen mitgezählt, die angaben, sich mindestens manchmal einsam zu fühlen.

„Wirklich dauerhaft einsam fühlt sich eine Minderheit. Die meisten Menschen fühlen sich geborgen“, behauptet Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum. Sie geht von etwa fünf Prozent an chronisch einsamen Menschen in der Bevölkerung aus.

Wie sich die Zahl der Einsamen seit der Corona-Pandemie entwickle, wisse man noch nicht. Statistiken seien generell schwierig. „Es gibt keine messbare Definition. In der Wissenschaft wird Einsamkeit als ein Zustand definiert, bei dem die sozialen Beziehungen nicht den Erwartungen der Menschen entsprechen. Dieser Punkt ist für jede Person irgendwo anders“, so Luhmann.

Forschung steckt noch in den Kinderschuhen

Es lasse sich auch nicht sagen, dass sich die Zahl der Einsamen in den vergangenen Jahrzehnten erhöht habe. „Wir wissen nicht, wie einsam die Menschen vor 20, 30 oder 50 Jahren waren“, so Luhmann. Die Einsamkeitsforschung stecke in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Heute lebten zwar viele Menschen allein, das bedeute aber nicht automatisch, dass sie sich auch einsam fühlten.

Das KNE will das bestehende Wissen über Einsamkeit bündeln und neues Wissen generieren. Unter anderem erarbeiten die Wissenschaftler laut Weber ein Einsamkeitsbarometer, um Daten über das Phänomen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, die sich auch über den Zeitverlauf vergleichen lassen.

Einsamkeit kann krank machen: „Einsamkeit tut weh. Bei chronischer Einsamkeit werden im Gehirn dieselben Areale aktiviert wie bei Schmerz“, so Psychologin Luhmann. Es gebe zwar keine klinische Diagnose im klassischen Sinne für das Gefühl und auch keine Therapien oder Medikamente, man wisse aber, dass Einsamkeit mit großen Risiken einhergehe. So könne chronische Einsamkeit sowohl psychische als auch physische Erkrankungen wie Depressionen, koronare Herzerkrankungen, Schlaganfälle oder Herzinfarkte begünstigen.

Durch Dauerstress in ständiger Alarmbereitschaft

„Wir sind soziale Tiere und dafür gemacht, in Gruppen mit anderen zu leben und dort besonders gut zu funktionieren. Einsamkeit ist gar nicht programmiert in unseren Körpern und unseren Seelen“, ergänzt Eva Peters, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Gießen. Das Gefühl der Einsamkeit bedeute Dauerstress für den Körper, da er sich in ständiger Alarmbereitschaft befinde. Es fehle das soziale Umfeld als Puffer für mögliche Gefahrensituationen.

Eine weitere Gefahr bestehe in der fehlenden intellektuellen Herausforderung. „Wenn keine Interaktion und Reize kommen, verkümmert das Gehirn wie ein unbenutzter Muskel. Das kann der Beginn von Alzheimer und Demenz sein“, so Peters.

„Einsamkeit kann einen Menschen von innen regelrecht auffressen“, beobachtet Besuchspate Jan Römmler. So habe Helga Müller in der ersten Zeit einen verkümmerten Eindruck gemacht. „Inzwischen ist sie richtig aufgeblüht“, so die Einschätzung Römmlers.

Politik ist gefragt bei Gestaltung öffentlicher Räume

Eine der wichtigsten Maßnahmen gegen Einsamkeit aus Luhmanns Sicht: Prävention. „Gerade bei Älteren muss man viel in diese Richtung denken, sie ermutigen, dass sie sich, wenn sie es noch können, um ihre sozialen Beziehungen kümmern, sich ein Netz aufbauen.“

Vor allem auch die Politik sei gefragt, etwa bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes. „Orte und Gebäude müssten so konzipiert sein, dass sie allen Menschen zugänglich sind. Es geht letztlich immer um Teilhabe.“ Bei Älteren sehe sie auch eine große Chance in der Digitalisierung, so Luhmann. Helga Müller zum Beispiel besitzt aber weder Smartphone noch Internet. Auf den Verein „Freunde alter Menschen“ wurde sie durch einen Artikel in einem Mietermagazin aufmerksam.

Versicherung: Viermal mehr Suizide

Eben jene Politik, die nun in die Pflicht genommen werden soll, um der Vereinsamung entgegenzutreten, hat diese in den Zeiten der Corona-Pandemie befürwortet und per Regelungen befohlen. Die harten Isolationsmaßnahmen wie etwa „Social Distancing“ oder Lockdown haben dazu massiv beigetragen.

Die Folge: Die Sterbegeldversicherung Monuta registrierte viermal mehr Suizide als vor der Pandemie. Diese Zahlen ergäben sich aus der Auswertung von Daten, wie etwa Krankenakten aus dem Jahr 2021. Der Deutschland-Chef des Unternehmens, Oliver Suhre, gab dies seinerzeit bekannt, Epoch Times berichtete darüber.

Der Anstieg sei „sehr stark der Isolation, der Vereinsamung“ vor allem älterer Menschen durch die Corona-Kontaktverbote geschuldet, so Suhre. „Wir müssen raus aus der Angstmache und hin zu einem konstruktiven Umgang. Sonst nimmt die Zahl noch weiter zu in den nächsten Jahren“, warnte Suhre vor rund 13 Monaten.

Isolation mit schlimmen Folgen für Kinder

Vor der Isolation von Kindern hatte der Intensivpädagoge Menno Baumann bereits im August 2020 gewarnt. „Die Idee, Minderjährige könnten allein, ohne gemeinsame Mahlzeiten und direkte Ansprache in fremder Umgebung oder isoliert in einem eigenen Raum zurechtkommen, ist für alle unter Zwölfjährigen kindeswohlgefährdend“, sagte der Professor der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf.

Eine plötzliche Trennung infizierter Kinder wäre für diese eine „Schocksituation mit womöglich verheerenden Folgen für die Kinderseelen“, denn sie fühlten sich in einer bedrohlichen Situation alleingelassen. Wenn überhaupt Kinder von ihren Familien getrennt werden sollten, dann müsse ein Elternteil mit in Quarantäne. „Wenn Isolation mit einem Elternteil nicht möglich ist, müsste die ganze Familie unter Quarantäne gestellt werden. Dann dürften die Eltern nicht zur Arbeit und die Geschwister nicht in Schule oder Kita. Anders geht es nicht.“

Alarmierende Zahlen veröffentlichte die Essener Uniklinik im Januar 2022. So war die Zahl der Suizidversuche bei Kindern im zweiten Lockdown um 400 Prozent im Vergleich vor der Zeit von Corona gestiegen. Zwischen März und Ende Mai 2021 behandelten Ärzte bis zu 500 Kinder nach Selbstmordversuchen bundesweit auf Intensivstationen.

Die Daten zur Studie der Uniklinik stammten von 27 deutschen Kinderintensivstationen. Die mit dem Lockdown verbundene soziale Isolation habe vor allem Mädchen und Jungen belastet, die schon zuvor unter Depressionen oder Angststörungen gelitten hätten.

Mainzer Meta-Analyse: Keine Einsamkeitspandemie

Von einer „Einsamkeitspandemie“ zu reden, sei „vermutlich übertrieben“, meinte Mareike Ernst von der Universität Mainz. Eine von ihr und weiteren Forschern erstellte Meta-Analyse gebe vielschichtige Antworten. Es seien „einige Effekte“ zu beobachten gewesen, hieß es im Mai 2022. Diese seien aber offenbar nicht besonders groß und teilweise widersprüchlich. „Es gibt eine Zunahme, aber nicht in dem Ausmaß, wie oft behauptet wird“, schlussfolgert Hauptautorin Ernst.

Eine Analyse internationaler Daten aus den ersten Monaten der Pandemie widerlegte die Furcht vor einer Zunahme von Suiziden, berichtete das „Ärzteblatt“ im April 2022. Studien aus Deutschland, die bislang nur kleinere regionale Populationen untersuchten, hätten ebenfalls keine auffällig erhöhten Suizidraten aufgezeigt.



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