EU-Parlaments-Vize: „Boris Johnson lebt in einem Paralleluniversum“

Der FDP-Politiker hält es für ausgeschlossen, dass Großbritannien als EU-Nichtmitglied Sonderrechte wie etwa die Schweiz erhalten könnte. "Das Modell Schweiz will in Brüssel niemand mehr, Ende der Durchsage."
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Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP).Foto: SIMON MAINA / AFP / Getty Images
Epoch Times28. Juni 2016

Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), hat den früheren Londoner Bürgermeister und prominenten Brexit-Befürworter Boris Johnson scharf für dessen Aussagen zur Zukunft Großbritanniens nach dem Brexit-Referendum kritisiert: "Boris Johnson lebt in einem Paralleluniversum", sagte Lambsdorff im Gespräch mit "FAZ.NET". "Er gaukelt den Menschen Dinge vor, die vollkommen illusorisch sind." Johnson hatte am Montag in einem Zeitungsbeitrag geschrieben, die Briten hätten auch nach einem Brexit Zugang zum europäischen Binnenmarkt und könnten vom Freihandel profitieren.

"Die Brexit-Wortführer haben offenkundig keinen Plan für den Tag ihres Sieges gehabt", sagte Lambsdorff weiter. Der FDP-Politiker hält es für ausgeschlossen, dass Großbritannien als EU-Nichtmitglied Sonderrechte wie etwa die Schweiz erhalten könnte. "Das Modell Schweiz will in Brüssel niemand mehr, Ende der Durchsage."

Auch das norwegische Modell im Verhältnis zur EU halte er für nicht sehr wahrscheinlich. Lambsdorff sieht die unklare Situation nach dem britischen Brexit-Votum zugleich als Beleg für dringenden Reformbedarf in der EU. Dass die Briten den Brexit nun möglicherweise hinauszögern könnten, zeige eine "typische Fehlkonstruktion der europäischen Verträge auf", sagte Lambsdorff.

"Die Mitgliedstaaten haben sie so angelegt, dass immer der betroffene Staat das Heft des Handelns in der Hand hat wie jetzt Großbritannien. Alle anderen 27 Mitglieder, die Union und ihre Institutionen sind dem ausgeliefert." Als Konsequenz forderte Lambsdorff "für zukünftige Fälle" eine Änderung des Artikels 50 des EU-Vertrags, der den Austritt eines EU-Mitgliedsstaats regelt. "Denn es kann ja nicht sein, dass ganz Europa darauf wartet, bis Großbritannien seine internen Probleme geregelt hat."

Lambsdorff hält den Brexit nach dem britischen Referendum unterdessen für unausweichlich. "Wenn die Bevölkerung abgestimmt hat und die Brexit-Befürworter mehr als eine Million Stimmen Vorsprung haben, dann ist es für die demokratischen Institutionen eines Landes schwer möglich, diese Entscheidung nicht umzusetzen."

Lambsdorff sagte auch, es wäre "vermutlich das Ende des etablierten Parteiensystems in Großbritannien und ein Triumph für UKIP, wenn der Brexit jetzt doch nicht umgesetzt würde". Großbritannien sei das Mutterland des Liberalismus, aber auch des Fair-Play-Gedankens. Dieser bedeute, das Votum der Wähler zu respektieren. Es müsse aber auch ein Fair Play gegenüber den europäischen Partnern geben.

"Großbritannien darf uns nicht ein oder zwei Jahre lang mit der Frage beschäftigen, ob es die Notifizierung einreicht oder nicht". Wenn die Briten den Antrag aber einreichten, sollte man daraus "keine Strafaktion" machen, sondern "fair miteinander umgehen – in dem Bewusstsein, dass wir uns auch weiterhin als Partner brauchen werden".

Lambsdorff glaubt aber nicht, dass die Briten den Austrittsantrag bereits auf dem EU-Gipfel an diesem Dienstag vorlegen, sondern "frühestens im Oktober, wenn der neue Premierminister im Amt ist, oder sogar noch später". Die Austrittsverhandlungen müssten spätestens bis zur Europawahl im Mai oder Juni 2019 beendet sein. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Vereinigten Königreich nach diesem Referendum noch einmal eine Europawahl geben kann."

Sollte London die Einreichung des Austrittsantrags weiter verzögern, sieht Lambsdorff für die EU nur ein einziges Druckmittel: "Der Rest der Union könnte das Referendum zur Notifizierung erklären und sagen: Diese Abstimmung kommt der Erklärung Großbritanniens gleich, aus der EU austreten zu wollen." Dies müsse dann aber auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben, weil eine britische Regierung, die eigentlich nicht aus der Union austreten wolle, einen solchen Beschluss sofort anfechten würde, so Lambsdorff.

"Dieses Szenario bedeutet deshalb große Unsicherheit auf beiden Seiten des Kanals, an der niemandem gelegen sein kann." Eine britische EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr lehnte Lambsdorff unterdessen ab. "Ich hielte es für sehr unpassend, wenn die Briten die Ratspräsidentschaft noch übernehmen wollten", sagte er. Er erwarte, dass David Cameron auf dem EU-Gipfel am Dienstag erkläre, die Präsidentschaft nicht mehr annehmen zu wollen.

Lambsdorff kritisierte auch das derzeitige Verhalten Berlins scharf. "Die Bundesregierung gibt doch gerade ein verheerendes Bild ab, weil sie sich offensichtlich völlig uneinig ist, wie sie sich verhalten soll", sagte er. "Aus dem Finanzministerium wird ein Strategiepapier an die Presse gespielt, die Bundeskanzlerin will das Problem wie immer aussitzen, ihr Außenminister dagegen will am Tag nach dem Referendum zusammen mit den EWG-Kollegen den Austrittsprozess beschleunigen. Desorganisierter geht es nicht."

Eine schottische EU-Mitgliedschaft hält Lambsdorff unterdessen für durchaus denkbar. "Sollte Schottland sich wirklich für ein zweites Referendum entscheiden und dann unabhängig werden, könnte es sich selbstverständlich um eine Mitgliedschaft in der EU bewerben." Weil Schottland bereits seit 1973 das gesamte europäische Recht anwende, "wären es vermutlich sehr unkomplizierte und schmerzfreie Verhandlungen und Schottland könnte nach kurzer Zeit problemlos der Union beitreten". (dts/dk)



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