Asyl-Gutachten: Ex-Verfassungsrichter Di Fabio liest Merkel staatsrechtlich die Leviten (Auszüge und Download)

„Ohne intakten Verfassungsstaat, und das möglichst weit verbreitet und als Modell funktionsfähig, gibt es keine Aussicht auf den aufrechten Gang des Menschen und den Schutz der Schwachen.“ Udo di Fabio
Titelbild
Ansturm in Kroatien im September 2015Foto: Getty Images
Von 13. Januar 2016

Das Erdbeben in den Kreisen der Politiker breitet sich noch unter der Oberfläche aus, aber ebenso wie es in der Bevölkerung unterirdisch brodelt, weil der Zustrom von Migranten kaum noch zu bewältigen ist, so kann das Gutachten von Prof. Dr. Udo di Fabio über die Pflichten der Bundesregierung zu diesem Thema niemanden in politischer Verantwortung wirklich kalt lassen.

Kein Wunder, dass sich Gerüchte über einen bevorstehenden Rücktritt der Kanzlerin und explizite Forderungen danach national und international verdichten. Aber wer auch immer regiert, es muss eine vernünftige und rechtsstaatliche Lösung gefunden werden.

„Aber gleich wie man Grenzen der Aufnahmefähigkeit definiert und rechtliche Auswahlverfahren wählt: Ohne Grenzen und Begrenzbarkeit entfällt eine zentrale Voraussetzung des offenen Verfassungsstaates, ein funktionell beherrschbarer Personenverband zu sein, schon um seine Schutz- und Ordnungsfunktion berechenbar zu gewährleisten. Niemand kommt um diesen dialektischen Widerspruch zwischen Öffnung und Begrenzung herum, weder theoretisch noch faktisch.“

Der dies am 14. September 2015 in der FAZ als Gastautor schrieb, war kein Geringerer als der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Udo di Fabio, qua Erfahrung als ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht mit respektablem Renommee ausgestattet, geeignet wie kein andrer, salopp ausgedrückt, der Bundeskanzlerin die juristischen Leviten zu lesen.

Wen wundert es, dass der bayerische Ministerpräsident ihn auswählte, ein Gutachten zu erstellen, das folgendem Vorwurf nachgeht:

Der Vorwurf

„Der  Vorwurf  richtet  sich  darauf,  die  Bundesregierung habe Anfang September 2015 das Signal ausgesendet, dass Deutschland  auch  außerhalb  seiner  Rechtspflichten  und  ohne  Rücksicht auf Kapazitätsgrenzen humanitären Schutz gewähre. Gleichzeitig – so  der  Vorhalt – habe  der  Bund  seine  Verantwortung  für  die kontrollierte Einreise nicht hinreichend wahrgenommen und dadurch insgesamt, in einer ohnehin bestehenden Krise, als Attraktor, als ein Magnet für  Wanderungsbewegungen  und begünstigend  für  organisierte Schleuserkriminalität gewirkt.“

Gutachten als PDF-Download

Wir haben aus dem öffentlich zugänglichen 125-seitigen Gutachten uns wesentlich und allgemein verständlich erscheinende Abschnitte ausgewählt, um den rechtlichen Rahmen deutlich zu machen, in dem sich die Fragestellung und ihre Beantwortung bewegt. Wir haben lediglich für leichtere Lesbarkeit innerhalb der Texte Absätze geschaltet.

Zu der Fragestellung im ersten Teil des Gutachtens:

„Es  ist  umstritten,  ob  die  nach  einer  Kontaktaufnahme  mit  dem  österreichischen Regierungschef  Faymann von der deutschen Bundeskanzlerin  am  4.  September  2015  konzedierte  Übernahme  von  Ungarn  über  Österreich  nach  Deutschland kommender  Einreisewilliger eine  humanitär  notwendige  Maßnahme  oder  eine  grobe,  bis  heute andauernde Missachtung  gesetzlicher  Vorschriften  durch  ein an Recht und Gesetz gebundenes Verfassungsorgan war.

Für anerkannte  Staatsrechtslehrer  wie Wolfgang  Durner oder Martin  Nettesheim ist die Ankündigung der Bundeskanzlerin, Flüchtlinge könnten künftig  direkt  in  Deutschland  Asyl  beantragen,  unvereinbar  mit  §  18 Asylgesetz (AsylG), der die Einreise von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten weiterhin für unzulässig erklärt.

Nettesheim vertritt die Ansicht, die „Entscheidung über Staatsgrenzen“ sei von  so  grundsätzlicher und wesentlicher Natur, dass sie vom Gesetzgeber getroffen werden müsse. Wenn das System einer Verlagerung von Grenzfunktionen  auf  die  Außengrenzen  von  EU -Partnerstaaten  zusammenbricht,  bedürfe  es  jedenfalls  einer  gesetzgeberischen  Entscheidung darüber, ob diese Funktionen wieder an der deutschen Grenze wahrgenommen  werden.

Durner fragt  pointiert,  ob  Bundesrecht neuerdings  durch  Kanzlerwort  geändert  werden  könne.“

„Es  gehört  zu  einer  der  großen  positiven Überraschungen  in  der  Geschichte  der  Bundesrepublik,  wie  bereitwillig und zivilgesellschaftlich vorbildlich Bürgerinnen und Bürger des Landes sich engagieren, um zu helfen und Notfallversorgung sicherzustellen.

Doch kann sich die Verwaltung von Ländern und Kommunen  auf  diese  freiwillige  Hilfe  nicht  dauerhaft und  sogar  in  zunehmenden Maße stützen, schon weil die Verantwortung für die Einhaltung  des  Rechts  der  öffentlichen  Verwaltung in  spezifischer  Weise auferlegt ist und vor allem für Fachleute sichtbar ist, wo Kapazitäten und Möglichkeiten erschöpft sein werden, wenn der Zustrom anhält oder  nach  einem  vorübergehenden  Rückgang  wieder  an  Stärke  gewinnt.

Die  Ressourcen  der  Verwaltung  sind  auf  das  Äußerste  angespannt.  Bleibt  es  bei  der  gemessen  an  verfassungsrechtlichen,  unionsrechtlichen und  völkerrechtlichen  Vorgaben letztlich ungesteuerten Zahl an Grenzübertritten, so wird die Eigenstaatlichkeit der Länder  bedroht bis  hinein  in  Kernaufgaben  wie  die  Gewährleistung  der öffentlichen  Sicherheit.“

Die Gutachtenfrage

„Der  Freistaat  Bayern  fragt,  welche  verfassungsrechtlichen  Pflichten dem Bund gegenüber den Ländern zur Begrenzung des massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen obliegen, insbesondere  im  Hinblick  auf  einen  wirksamen  Schutz  der  Grenzen.  Zudem  soll  geklärt  werden,  welche  Möglichkeiten  Bayern  offenstehen, diese  Pflichten  gegebenenfalls  im  Wege  einer  Verfassungsklage  vor dem Bundesverfassungsgericht durchzusetzen.“

Ab S 116 die Antwort als Zusammenfassung in 12 Thesen (Auszug):

6. „Der Bund ist aus  verfassungsrechtlichen Gründen im Sinne der demokratischen Wesentlichkeitsrechtsprechung  nach  dem  Lissabon-Urteil  des  BVerfG verpflichtet,  wirksame  Kontrollen  der  Bundesgrenzen  wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist.“

7. „Das  Grundgesetz  garantiert  jedem  Menschen,  der  sich  auf dem  Gebiet  der  Bundesrepublik  Deutschland  befindet  und  ihrer  Herrschaftsgewalt  unterworfen  ist,  eine  menschenwürdige Behandlung (Art.  1  Abs.  1  GG). 

Das  Grundgesetz  garantiert jedoch  nicht  den  Schutz  aller  Menschen  weltweit  durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich. Entsprechende unbegrenzte Verpflichtungen dürfte  der  Bund  auch  nicht  eingehen. 

Eine  universell  verbürgte und unbegrenzte Schutzpflicht würde die Institution demokratischer Selbstbestimmung und letztlich auch das völkerrechtliche  System  sprengen,  dessen  Fähigkeit,  den  Frieden  zu  sichern,  von  territorial  abgrenzbaren  und   handlungsfähigen Staaten abhängt.“

8. „Art.  16  a  GG gewährt  Asyl  bei  politischer  Verfolgung,  soweit nicht die Einreise über einen sicheren Drittstaat erfolgt. Darin liegt nach dem Asylkompromiss eine Verfassungsentscheidung für den  Ausgleich  eines  Individualrechts  mit  Stabilitäts- und Leistungserfordernissen des demokratischen Gemeinwesens.“

10. „[…] Die Europäische Menschenrechtskovention  begründet  kein  Menschenrecht  auf  ungehinderte  Einreise  in  einen  Konventionsstaat  und  sieht  keine  unbegrenzte Pflicht zur Aufnahme von Vertriebenen oder heimatlos gewordenen Menschen vor.“

11. „Bundesgesetzgeber,  die  Bundesverwaltung und  die  Rechtsprechung  haben  zur  Gewährleistung  kontrollierter  Einreise  in das  Bundesgebiet  eine systematisch  folgerichtige  Entscheidung  zu  treffen: 

Entweder  es  bleibt  beim  (quantitativ  unbegrenzten) individuellen Recht auf Asyl bei dann auch individueller Prüfung einer drohenden politischen Verfolgung sowie der Einschränkung  des  Asylrechts  beim  Weg  über  sichere  Drittstaaten oder  aber es  gilt  der  weite  Flüchtlingsbegriff,  der  von der  europäischen  Staatenpraxis  und  vom  Handbuch  des  UNHCR  zugrunde  gelegt  wird,  der  aber  dann  klare  Kontingentierung,  wirksame  Verteilungsmechanismen  und  die  Formulierung sowie Durchsetzung von Kapazitätsgrenzen erfordert.“

12. „Es liegt innerhalb eines nur begrenzt justiziablen politischen Gestaltungsermessens  des  Bundes,  was  getan  werden  muss, um ein  gemeinsames europäisches Einwanderungs- und  Asylrecht wiederherzustellen oder neu zu justieren. Zurzeit deutet einiges darauf hin, dass das Mindestmaß an politischen Aktivitäten  durch  den  Bund  diesbezüglich  noch  unterschritten  ist.

Sollte  die  Migrationskrise  nicht  mit  wirksamen  europäischen Maßnahmen  rechtsgestaltender  oder  gerichtlicher  Art  (Vertragsverletzungsverfahren)  bewältigt  werden,  muss  der  Bund zur  Wahrung  der  verfassungsstaatlichen  Ordnung  und  zum Schutz  des  föderalen  Gefüges  zumindest  einstweilen  die  gesetzmäßige  Sicherung  der  Bundesgrenze  gewährleisten,  weil die  Kontrolle  über  Elemente  der  Staatlichkeit  im  Sinne  des Identitätsvorbehalts der Rechtsprechung des BVerfG integrationsfest ist.“

Was nun? Allen Politikern ins Gesangbuch geschrieben:

(Seite 105 des Gutachtens) „Gerade weil die Schutzverantwortung für  Menschen  auf dem Bundesgebiet  von  den  Bürgern  der  Republik letztlich  eingelöst  werden  muss,  ist  zwar  eine  Politik  der  humanitären  Großzügigkeit  jederzeit  im Rahmen  der  dafür  notwendigen  gesetzlichen  Ausgestaltung  verfassungsrechtlich  möglich,  aber  eben nur nach definierten und verantwortbaren Maßstäben, deren Einhaltung dann sowohl rechtlich möglich als auch dem Grunde nach praktisch durchsetzbar  ist.  Eine  gesetzliche  Ermächtigung hätte  deshalb sowohl den Anwendungsvorrang des Unionsrechts als auch existenzielle  Voraussetzungen  jeder  verfassten  Gemeinschaft  zu  wahren.“



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