Gespaltenes Land feiert Einheit

Stand der Tag der Einheit im Zeichen der Spaltung? Deutsche Spitzenpolitiker feierten den 3. Oktober in Erfurt. Am Abend gab es vor allem im Osten Montagsdemonstrationen. Eine Analyse.
Zahlreiche Besucherinnen und Besucher sind zum Bürgerfest nach Erfurt gekommen.
Zahlreiche Besucherinnen und Besucher sind zum Bürgerfest nach Erfurt gekommen.Foto: Sebastian Willnow/dpa
Von 5. Oktober 2022


In diesem Jahr war Erfurt der Schauplatz der zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit. Obwohl einige Veranstaltungen infolge schlechten Wetters abgesagt werden mussten, besuchten immerhin mehrere Zehntausend Personen das dreitägige Bürgerfest. Den eigentlichen Festakt im Theater erlebten jedoch nur einige hundert Gäste.

Erst demonstrierte die Linke gegen Feiern zur Einheit – heute die Rechte

Feiern zur Deutschen Einheit waren seit 1990 nie ohne jedwede Missklänge vonstattengegangen. Schon am Tag des Beitritts der fünf neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gab es Proteste und Ausschreitungen. Damals gingen diese vor allem von linksextremen Gruppierungen aus, die eine Wiedervereinigung verhindern wollten. Sie blieben gegenüber Hunderttausenden Bürgern, für die mit der Einheit ein Herzenswunsch in Erfüllung ging, in der klaren Minderheit.

Mit Fortdauer der Jahre blieben die Bürgerfeste, mit denen die Einheitsfeiern in unterschiedlichen Landeshauptstädten begleitet waren, stets gut besucht. Die offiziellen Festakte mit Politprominenz stießen jedoch auf zunehmend geringeres Interesse.

In den 2010er-Jahren spielten linke Proteste gegen Einheitsfeiern kaum noch eine Rolle. Demgegenüber waren es vermehrt Anhänger rechter Gruppierungen wie „Pegida“, die Vertreter des Staates mit Pfiffen und Buhrufen empfingen. Im Jahr 2019 wurde moniert, dass die offizielle Feier im 30. Jahr des Mauerfalls gänzlich ohne Schwarz-Rot-Gold auskam.

Allein in Gera mehr als 10.000 Menschen auf der Straße

Im Jahr 2022 gab es erstmals seit der Corona-Krise wieder eine Feier mit Bürgerfest – und am Abend desselben Tages beteiligten sich allein schon in Gera nach Polizeiangaben über 10.000 Menschen an Montagsdemonstrationen. Mehr als 100.000 Menschen demonstrierten nach Schätzungen der Polizei bei Dutzenden Kundgebungen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf der Straße. Das geht aus Bilanzen der Behörden vom Dienstag hervor. Im Westen waren die Proteste kleiner.

Dennoch sehen es nicht wenige Beobachter als ein bezeichnendes Signal, dass gerade dort, wo Bürger 1989 die Einheit Deutschlands herbei demonstrierten, heute Proteste gegen deren Folgen stattfinden.

Ein immer häufiger auf Transparenten und T-Shirts auftauchendes Sujet ist dabei der Slogan: „Für diese Sch***e sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen“. Gerade im Osten des Landes macht sich zunehmend der Eindruck breit, dass sich das Land in all den Jahren zum Negativen verändert habe.

Politik appelliert an „Mut und Zusammenhalt“

In Erfurt rief Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu „Mut und Zusammenhalt“ auf. Man möge sich der Wendezeit erinnern, in der diese eine tragende Rolle gespielt hätten. Das Land müsse zusammenstehen, appellierte Bas. Bei allem Streit lebe die Demokratie von der Suche nach gemeinsamen Lösungen. Vonnöten seien „weniger Wut und mehr Respekt, weniger Rechthaberei und mehr Neugier, weniger Vorurteile und mehr Empathie“.

Genau das vermissen jedoch viele Teilnehmer der Montagsdemonstrationen ihrerseits in der politischen Klasse und deren Gebaren ihnen gegenüber. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in Erfurt von einer „Einheit demokratischer Rechtsstaaten, die auf soziale Marktwirtschaft setzen“. Dies werde „uns stark machen, auch in der Zukunft“.

Demgegenüber herrscht – Plakaten und Parolen nach zu schließen – bei Teilnehmern der Montagsdemonstrationen eher der Eindruck vor, dass die zentralen Versprechen der Einheit von 1990 zunehmend infrage gestellt würden: eine freiheitliche Demokratie, ein friedliches Deutschland und Wohlstand durch soziale Marktwirtschaft. 

Viele Ostdeutsche sehen moralisierendes Deutschland

Bereits bezüglich der freiheitlichen Demokratie sehen vor allem in Ostdeutschland die Menschen ihre Erwartungen nicht erfüllt. In nur zwei Jahren seit 2020 ist der Anteil der Ostdeutschen, die überzeugt sind, dass Redefreiheit ohne Furcht vor Repressalien gewährleistet sei, von 50 auf 43 Prozent gesunken. Im Westen sank dieser Anteil ebenfalls – um fünf Prozent auf allerdings immer noch hohe 58 Prozent.

Auch was den Frieden anbelangt, fühlen sich viele Ostdeutsche belogen. Die damalige Regierungsspitze unter Kanzler Helmut Kohl schwor noch 1990 jedweden Revanchismus ab. Der Konsens lautete, von der wiedervereinigten Bundesrepublik dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen.

Mittlerweile ist nach Meinung vieler Montagsdemonstranten von diesem Konsens nicht mehr viel zu bemerken. Aus dem Deutschland, in dem 2006 „die Welt zu Gast bei Freunden“ war, sei ein Land geworden, das in aller Welt belehrend und moralisierend auftrete.

Sogar Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow sprach in Erfurt von „Putins Angriffskrieg“, der „verbrecherisch“ und „imperialistisch“ sei – und artikulierte damit eine Position, die im Osten laut Umfragen deutlich weniger unumstritten ist als im Westen.

Unter den Montagsdemonstranten und deren Sympathisanten finden sich viele, die bereits 2014 die einseitige Parteinahme für den von Nationalisten unterstützten „Euromaidan“ in der Ukraine als Sündenfall betrachtet hatten. Sie sehen in deren Begehrlichkeiten nach einer Ukraine, in der Russen als Bürger zweiter Klasse gelten, den eigentlichen Grund für den Krieg. Einige argwöhnen auf Facebook sogar, dass Deutschlands Eliten Selbsterlösung suchen könnten, indem sie nach zwei verlorenen Weltkriegen nun endlich einen auf der vermeintlich „richtigen“ Seite bestreiten.

Krieg, DDR und Corona überlebt – an Energiekosten gescheitert

Eines der zentralen Themen der Montagsdemonstrationen ist jedoch auch der absterbende Wohlstand. Während im Osten bereits seit der Wiedervereinigung der Eindruck verbreitet ist, der Westen habe sich an ihm bereichert, kommt nun die Energie-Krise dazu.

Familien und Unternehmen im Osten hatten deutlich weniger Zeit und Gelegenheit, sich Reserven anzulegen, um in Situationen wie diesen darauf zurückzugreifen. Nun kapitulieren reihenweise wirtschaftlich gesunde Klein- und Mittelbetriebe, die durch Fleiß und Disziplin die Corona-Krise überlebt hatten. Alteingesessene Handwerksbetriebe, die Kriege und Kommunismus überlebt hatten, schließen aufgrund nicht mehr bezahlbarer Gasrechnungen für immer. Das Phänomen zeigt sich auch im Westen.

Die politische Führung spricht von Opfern, die man in „Solidarität“ bringen müsse, und appelliert an das „Unterhaken“ und die Verzichtsbereitschaft. Immer mehr Normalbürger fragen sich demgegenüber, wo die Solidarität ihnen gegenüber bleibt. All das verstärkt immer mehr den Eindruck, die „Einheit“ sei etwas, das auf ihre Kosten hergestellt werde.



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