Geweihte Täter: Priester häufiger wegen sexuellen Missbrauchs anzeigt als andere Männer

„Die Auswertung der Personalakten zeigt deutlich, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Priester ein anhaltendes Problem ist, kein historisches“. Das sagte Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der forensischen Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit.
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Geweihte Kriminelle?Foto: iStock
Epoch Times4. Juli 2019

„Es haben die Pfaffen mitunter auch Böses im Sinne.“ So sagte schon Johann Wolfgang von Goethe. Und auch heute scheint das Sprichwort aktueller denn je. Denn trotz ihres Weihamtes werden Priester nicht seltener wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern angezeigt als Männer in der Allgemeinbevölkerung. So lautet das Ergebnis der Auswertung der Personalakten der deutschen katholischen Kirche unter Leitung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), an dem Wissenschaftler der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen mitgewirkt hatten.

Dafür wurden nur Taten aus dem Zeitraum 2009 bis 2015 berücksichtigt, bei denen die Kinder zum Tatzeitpunkt jünger als 14 Jahre alt waren. Tatsächlich ermittelten die Forscher sogar, dass die Quote der Beschuldigten unter den katholischen Priestern, gegen die auch eine Strafanzeige gestellt wurde, in einigen Jahren sogar höher lag als die Quote in der männlichen Allgemeinbevölkerung. Dabei ist das Dunkelfeld noch nicht umfasst. Viele Taten bleiben unentdeckt.

Die Auswertung der Personalakten zeigt deutlich, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Priester ein anhaltendes Problem ist, kein historisches“, so Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der forensischen Psychiatrie am ZI.

Bereits 2002 wurden durch die Katholische Kirche Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche erlassen. Ungeachtet dessen ist die Anzahl der sexuellen Missbrauchsvorwürfe gegen katholische Priester im Zeitraum 2009 bis 2018 nicht etwa rückläufig, sondern konstant.

MHG-Studie

Im September 2018 hatte Prof. Harald Dreßing die Ergebnisse der MHG-Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche der Öffentlichkeit vorgestellt, die die Forscher des ZI erstellt hatten. Demnach wurden zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1.670 Kleriker innerhalb der katholischen Kirche Missbrauch angezeigt.

Dabei traten Mehrfachtaten an einzelnen Betroffenen häufiger auf als einmalige Vorfälle. Die durchschnittliche Missbrauchsdauer lag bei zwischen 15 und 20 Monaten, das mittlere Alter der Opfer bei 10 bis 12 Jahren. In 51,6 Prozent aller Missbrauchsfälle waren die Kinder maximal 13 Jahre alt. Die Kleriker waren bei der Ersttat zwischen 30 und 50 Jahren.  In dem Bericht heißt es:

Drei Viertel aller Betroffenen standen mit den Beschuldigten in einer kirchlichen oder seelsorgerischen Beziehung (z.B. Ministrantendienst, Religionsunterricht, Erstkommunions-oder Firmvorbereitung, Katechese, allgemeine Seelsorge). Bei der Tatanbahnung hatten die Beschuldigten u.a. folgende psychologische Techniken eingesetzt (TP2, TP6 – Anmerkung der Redaktion: TP2 weist auf Interviews mit Betroffenen sowie beschuldigten und nicht beschuldigten Klerikern hin, TP6 auf Analysen von Personalakten der Diözesen):

  • Ausübung psychischen Drucks oder psychischer Gewalt, Ausnutzung von Autorität (bei allen Betroffenen),
  • Versprechung oder Gewährung von Vorteilen (bei ca. 35 % der Betroffenen),
  • Ausnutzung der emotionalen Bindung zum Beschuldigten (bei ca. 23 % der Betroffenen),
  • Androhung oder Ausübung von physischer Gewalt (bei ca. 20 % der Betroffenen),
  • religiöse, gesundheitliche oder sexualpädagogische Verbrämung der Tat (bei ca. 16 % der Betroffenen)“

Von der Ersttat bis zur Einleitung eines Strafverfahrens dauerte es durchschnittlich 13 Jahre, 22 Jahre bis zur Einleitung kirchenrechtlicher Verfahren und 23 Jahre bis zur Meldung an die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom.

In der Studie wird auf die Berichte der Vergewaltungsopfer Bezug genommen. Sie berichteten beispielsweise:

sie seien nach und nach in das Blickfeld eines Priesters geraten, hätten aber in keiner Weise die Kraft oder den sozialen (familiären bzw. außerfamiliären) Rückhalt verspürt, um den immer weiter zunehmenden Übergriffen dieses Priesters auszuweichen oder diesen etwas entgegenzusetzen. Vielmehr sei das „Grundgefühl des Ausgeliefertseins“, welches sich in ihrer Familie eingestellt habe, nun noch einmal „verstärkt“ worden – und zwar „gewaltig verstärkt“, wie es ein Betroffener ausdrückte; dessen habe man sich nicht mehr erwehren können und habe „schließlich aufgegeben“ –und zwar so lange aufgegeben, bis der Priester „von sich aus abgelassen“, „das Interesse verloren“ habe oder aber „irgendwann aus dem Internat verschwunden“ sei.“

Auszug aus einem Interview

Nachfolgend geben wir einen Teil der MHG-Studie, ein Interview eines Missbrauch-Opfers, wieder:

„Um ein Beispiel aus einem der Interviews mit einem Schüler (also Betroffenen) und einem Erzieher (also Beschuldigten) zu geben: Ein in den Anfängen der Pubertät stehender Schüler sieht sich plötzlich mit der Entscheidung seiner Eltern konfrontiert, für die nächsten Jahre ein Internat zu besuchen. An dieser Entscheidung konnte er nicht mitwirken, diese wurde vielmehr „für“ ihn getroffen und erwies sich dabei als „endgültig“. Dieser Schüler fühlt sich im Internat völlig vereinsamt, er ist von einem starken Heimweh bestimmt, er fühlt sich in seinen identitätsbezogenen Fragen und Konflikten alleine gelassen, er meidet aufgrund innerer Ambivalenzen tieferreichende Kontakte mit den Mitschülern. In dem Internat fühlt sich ein Erzieher für die aktuelle Situation dieses Schülers mitverantwortlich, er empfindet Mitgefühl, möchte dem Schüler durch Gespräche helfen. Dieser Erzieher hat sich in seiner Biografie nicht reflektiert mit seiner Emotionalität, Erotik und Sexualität auseinandergesetzt, er hat diesen Bereich seiner Persönlichkeit nicht zu einer höheren Reife entwickelt. Zugleich fühlt er sich an vielen Tagen einsam und alleingelassen, und gerade in diesen Situationen wird ein immer stärkeres Verlangen nach intensivem emotionalem Austausch, nach intensiver Intimität spürbar.

Zu Beginn ist die Interaktion mit dem Schüler von Empathie und Unterstützung bestimmt; doch allmählich spürt der Erzieher einen immer stärkeren Drang, den Schüler zu berühren, sich diesem auch körperlich immer weiter zu nähern. Der Schüler zieht sich von dem Erzieher mehr und mehr zurück, da er etwas „Fremdes“ in dessen Verhalten spürt und zugleich nicht den Mut hat, den Erzieher direkt zurückzuweisen. Der Erzieher fühlt sich durch den Rückzug des Jungen noch mehr zu diesem hingezogen und beginnt nun, diesen körperlich, schließlich auch sexuell immer stärker zu bedrängen. Schließlich kommt es immer wieder zu Phasen körperlicher und sexueller Nötigung, die vom Erzieher rückblickend als Ausdruck eines unkontrollierbaren Impulses geschildert werden, vom Schüler als ein immer stärkeres Eindringen in seine Intimsphäre, ja, als Akt der Gewalt. Eine zu Beginn von beiden als „fruchtbar“, als „bereichernd“ erlebte Beziehung schlägt in Gewalt um, weil der Erzieher in dieser Beziehung – auch für ihn selbst überraschend – mit der ganzen Intensität seiner Emotionalität, Erotik und Sexualität konfrontiert wird, die er – aufgrund der mangelnden inneren Auseinandersetzung mit dieser – überhaupt nicht mehr kontrollieren kann.

Für den Schüler beginnt nun eine Zeitspanne großer Angst, bedingt durch das Gefühl des Verfolgt- und Bedrohtseins. Der Erzieher kann sich nicht mehr von körperlichen und sexuellen Phantasien, die sich auf den Schüler beziehen, freimachen. Er sucht ständig den Kontakt mit diesem, beginnt, dem Schüler Privilegien zu versprechen, droht aber zugleich mit negativen Sanktionen für den Fall, dass sich der Schüler von ihm abwendet. Die Situation eskaliert: Der Schüler wird von dem Lehrer schließlich so stark misshandelt, dass die Internatsleitung auf die für den Schüler unerträgliche Situation aufmerksam wird, diesen ausführlich befragt und schließlich die Versetzung des Erziehers betreibt. Der Schüler kann sich – wie er im Interview immer wieder darlegt – von diesen Erlebnissen über mehrere Jahre nicht distanzieren; auch in der heutigen Gegenwart gibt es immer wieder Situationen, in denen er an das Verhalten des Erziehers erinnert wird.“

Haltung der Täter

In 33 von 50 untersuchten Missbrauchsfälle schätzten die Täter die Tat als „weniger schwerwiegend“ ein oder bagatellisierten den Sachverhalt.  25 der 50 Beschuldigten sagten, dass die sexuellen Handlungen im Einvernehmen durchgeführt wurden, „die Betroffenen hätten zumindest keine Ablehnung oder Unbehagen erkennen lassen“. Fast ein Drittel sprachen von einer sexuellen Provokation.

Für zehn Beschuldigte war ihr Fehlverhalten als unabhängig von der Beziehung zu den jeweiligen Betroffenen, 40 sprachen von einer „besonderen Vertrauensbeziehung“, die zur Handlung führten. 31 Beschuldigte gaben an, Verantwortung für die Tat zu übernehmen bzw. übernommen zu haben, 20 Beschuldigte berichteten spontan von anhaltenden Schuldgefühlen, 16 von Reue, 12 von Selbstvorwürfen.  In der MHG-Studie wird ausgeführt:

Etwa die Hälfte der Beschuldigten äußerte spontan, das eigene Fehlverhalten selbst nicht erklären zu können; die Frage, wie es zu diesem kommen konnte, habe sie lange und intensiv beschäftigt bzw. beschäftige sie bis heute. Achtzehn deuteten die in Frage stehenden Situationen als Prüfung (Gottes), die sie nicht bestanden hätten bzw. als Versuchung, der man hätte widerstehen müssen, aber nicht habe widerstehen können. Das eigene Fehlverhalten wird als Ausdruck der Natur des Menschen, seiner Unvollkommenheit, um deren Überwindung man sich zu bemühen habe, interpretiert. 19 Beschuldigte gaben an, die Tat(en) gebeichtet und 20 Beschuldigte, Buße getan zu haben. Acht Beschuldigte führten ihre Tat(en) auf eine psychische Erkrankung zurück. Sie hätten zwar Schuld auf sich geladen, aber nicht anders handeln können und seien deshalb auch nur bedingt verantwortlich.“

Etwa ein Viertel der kirchenrechtlichen Verfahren endete ohne jegliche Sanktionen. Entlassungen aus dem Priesterstand oder Exkommunikation waren „in geringer Zahl“ verzeichnet. Häufig wurden die Priester einfach versetzt.

Besonders problematisch scheint die Tatsache, dass entgegen den Leitlinien die Position der Missbrauchsbeauftragten von kirchlichen Amtsträgern oder sonstigen Mitarbeitern der Diözesen besetzt wurden. Dazu heißt es in der Studie:

Auch die Trennung der Funktionen von Missbrauchsbeauftragen und Präventionsbeauftragen ist in einigen Diözesen nicht sauber gelöst.“

Katholische Sexualmoral und Machtmissbrauch

Homosexualität sei kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch, so die MHG-Studie. Allerdings würden die Studienergebnisse deutlich zeigen, dass man sich damit beschäftigen müsste, „welche Bedeutung den spezifischen Vorstellungen der katholischen Sexualmoral zu Homosexualität im Kontext des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zukommt“.

Die Studie empfiehlt, die grundsätzlich ablehnende Haltung der katholischen Kirche zur Weihe homosexueller Männer „dringend zu überdenken“.  Weiter ist aufgeführt:

Von der Kirche in diesem Zusammenhang verwendete idiosynkratische Terminologien wie jene einer „tief verwurzelten homosexuellen Neigung“ entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Anstelle solcher Haltungen ist eine offene und toleranzfördernde Atmosphäre zu schaffen. Erkenntnisse der modernen Sexualmedizin müssen dabei stärkere Berücksichtigung finden.“

Sexueller Missbrauch stelle immer einen Missbrauch von Macht dar. Dabei erfordere eine Änderung klerikaler Machtstrukturen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Weiheamt des Priesters und dessen Rollenverständnis gegenüber nicht geweihten Personen.

Die Sanktionierung einzelner Beschuldigter, öffentliches Bedauern, finanzielle Leistungen an Betroffene und die Etablierung von Präventionskonzepten und einer Kultur des achtsamen Miteinanders sind dabei notwendige, aber keineswegs hinreichende Maßnahmen. Wenn sich die Reaktionen der katholischen Kirche auf solche Maßnahmen beschränken, sind solche grundsätzlich positiven Ansätze sogar geeignet, klerikale Machtstrukturen zu erhalten, da sie nur auf Symptome einer Fehlentwicklung abzielen und damit die Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Problem klerikaler Macht verhindern“, so die Studie.

Übrigens: Die Gesamtsumme aller ausgezahlten „Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde“ betrug bis Ende 2014 über alle Diözesen hinweg rund 5 Millionen Euro. (sua)



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