Hetze und Drohungen auf Twitter – Drosten entkräftet Bild-Kampagne: „Das ist vollkommen irreführend“
In der Drosten-Studie geht es um die Viruslast bei Kindern, was besonders entscheidend ist für die Frage, ob und wie Schulen und Kitas wieder geöffnet werden können. Umfangreiche Daten, die Aufschlüsse zu SARS-CoV-2-Infektionen in Schulen und Kitas liefern würden, gab es zum Zeitpunkt der Erstellung der Studie nicht, weil die Einrichtungen geschlossen waren. Auch gab es nur wenige Datenproben von Kindern, weil diese „eigentlich keine Symptome haben“.
Aus diesem Grund entstand eine „Blitzaktion“. Drosten veranlasste seine Mitarbeiter, alle vorhandenen Daten zusammenzustellen. Zwei Tage lang analysierte der Mathematiker Terry Jones diese, bevor sie zusammengeschrieben wurden. Das Manuskript dazu wurde als Pre-Print auf die eigene Homepage des Charité gestellt – „ein vollständiges wissenschaftliches Manuskript“, wie es Drosten beschreibt.
Am selben Abend erschien die Nachricht auf Twitter, dass die Studie in englischer Sprache eingesehen werden könne. Innerhalb von ein paar Stunden gab es erste Rückmeldungen von Wissenschaftlern. Drosten sagte:
„Die Auswertung, das Endergebnis, ist, was die Laborseite angeht, glasklar, wir haben eine ganz saubere statistische Analyse gemacht. Und diese statistische Analyse sagt: Wir können in Kindergruppen nicht nachweisen, dass die gegenüber Erwachsenen unterschiedliche Viruskonzentration in den Atemwegen haben.“
Daten im „Vertrauensbereich“
Man könne sich zwar bei Durchsicht der Daten vielleicht einbilden, dass es so aussähe, als wäre die Viruslast bei den Kindern doch ein bisschen weniger. Und wenn man die Durchschnittswerte in Tabellen anschaue, könnte man denken, es gäbe vielleicht einen Trend in diese Richtung. Aber das seien „so Dinge“, da würden auch die Konfidenzintervalle – also die Streubereiche – größer.
Drosten erläutert: „Das ist der Datenbereich – anhand der Streuung ermittelt, anhand der Ungenauigkeit der Messung und vor allem der Verteilung der einzelnen Datenpunkte -, der Datenbereich, wo man sagt, das sind 95 Prozent des Datenumfangs, der liegt in diesem Bereich drin.“ Das sei also ein „Vertrauensbereich“, bei dem man sich darauf verlassen könne, dass dort der wirkliche Mittelwert liege.
Die Ergebnisse wurden in unterschiedliche Altersgruppen eingeteilt – bis zu zehn Jahren, bis zwanzig, bis dreißig und so weiter. Für eine weitere Auswertung erfolgte dann die Unterteilung in Kindergarten-, Kleinkind-, Vorschul- und Grundschulalter sowie das normale Schulalter, Universität und junge Erwachsene, die selber Kinder haben, ältere Erwachsene, bei denen die Kinder eher schon langsam aus dem Haus sind oder die zumindest nicht mehr Kleinkinder zu Hause haben.
„Im Wesentlichen muss man sagen, es gibt keine nachweisbaren Unterschiede in der Viruslast. Das ist das, was da steht in dieser wissenschaftlichen Veröffentlichung“, sagte Drosten. Bezüglich kleiner Unterschiedlichkeiten, die man vielleicht ableiten könnte, verweist der Wissenschaftler darauf, dass man eigentlich noch zehnmal so viele Kinder hätte untersuchen müssen. „Aber so viele haben wir nun mal nicht.“
Das Fazit der am 30. April veröffentlichten Studie lautete: „Children may be as infectious as adults“, was bedeutet: Es könnte sein, dass Kinder genauso infektiös wie Erwachsene sind.
Kein Einfluss auf Kita- und Schulschließung
Einen Einfluss auf die Kita- und Schulschließung hatte die Studie nicht. Zu dieser Zeit waren die Kitas und Schulen bereits fast zwei Monate geschlossen.
Allerdings soll Drosten nach Meldungen einer Boulevard-Zeitung „maßgeblichen Einfluss auf die schulpolitischen Entscheidungen der Landesregierungen“ gehabt haben. „Zunächst wollten die Landeschefs bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 12. März unter der Leitung von Kanzlerin Angela Merkel lediglich Schulen in Corona-Krisenherden schließen. Drosten, der sich zuvor gegen Schulschließungen ausgesprochen hatte, argumentierte in der Runde plötzlich dafür. Danach befürwortete die Mehrheit der Länderchefs flächendeckende Schulschließungen“, heißt es bei „Bild“.
Nachdem die „Bild“-Autoren am Montagnachmittag in einem Artikel diverse Wissenschaftler herangezogen haben, um eine Kampagne gegen Drosten zu starten, die sich von der „Bild“-Meinung distanzierten, werden nun die „Koryphäen“ Sir David Spiegelhalter, Statistik-Professor an der Cambridge-Universität, und Kevin McConvay, früherer Statistik-Professor der Open University sowie Vize-Präsident der Royal Statistical Society, angeführt.
Sie würden „erhebliche Mängel“ an der Drosten-Studie sehen. Nach einer Analyse sollen diese Statistiker die Charité aufgefordert haben, „die Fehler anzuerkennen und die Studie zurückzuziehen“. Die Studie solle von der Charité-Website entfernt und die „unangemessene Analyse eingestanden“ werden.
Eine Charité-Sprecherin erklärte auf Nachfrage der „Bild“ dazu: „Wir haben inzwischen bessere Statistikmethoden verwendet – ganz im Sinne der Vorschläge von David Spiegelhalter, die wir aber zum Zeitpunkt unserer Überarbeitung gar nicht kannten – und kommen damit zum selben Ergebnis.“ Zudem könne oder müsse die Pre-Print-Version nicht zurückgezogen werden, da es sich nur um ein vorläufiges Dokument handele, das zur wissenschaftlichen Diskussion stehe.
Statistiker und Mediziner
In seinem neuen Podcast Nr. 44 nimmt Drosten persönlich zu den Vorwürfen Stellung. Für die Studie hätte man „relativ einfache statistische Methoden“ genommen. Auf die Studie hätten sich dann Statistiker, also Menschen, die keine Epidemiologen oder Mediziner seien, gemeldet, „und die haben vollkommen zu Recht gesagt: ‚Das sind aber ganz schön grobe Methoden, die ihr da benutzt.‘“ Allerdings sei Drosten und seinem Team dies bereits im Vorfeld bewusst gewesen. „Das war auch nicht ganz unbeabsichtigt“, sagte der Virologe.
Und diese Statistiker hätten jetzt unter anderem auf Twitter und in ihren Pre-Print-Äußerungen einen Diskurs gestartet, die „berechtigt“ seien. Hier und da würden die Statistiker unter Anwendung feinerer Methoden einen Hinweis finden für Unterschiede in den Viruskonzentrationen. Der Vorwurf laute nun, dass man eine bessere Statistik hätte machen können.
„Wenn ich mich dazu geäußert hätte, dann hätte ich sagen können: ‚Ja, stimmt‘. Aber das hat für die medizinische Interpretation und Bedeutung dieser Daten überhaupt keine Konsequenz.“ Insoweit spiele man auf einen „Nebenschauplatz“.
Verglichen mit dem Alltagsleben bedeute diese Diskussion: „Sie bauen sich in ihrer Freizeit zu Hause ein Gartenhäuschen und mauern das hoch und dann kommt ein Maurermeister und sagt: ‚Sie hätten aber eine bessere Kelle verwenden können. Dann wären die Fugen vielleicht schöner geworden.‘“ Bis dahin sei die Sache berechtigt. Wenn aber dann noch jemand von außen angelaufen kommen würde, der kritisiert, dass das Haus gar kein Haus sei, weil sich der Maurer darüber beschwert habe, dann wäre dies so ungefähr die Situation, mit der gerade über die Studie in der Öffentlichkeit diskutiert werden. „Das ist vollkommen irreführend.“
Die „substanziellste“ Kritik von Wissenschaftlern wurde nach der Veröffentlichung der Pre-Print-Version der Studie gesammelt und in einem Schreiben an die Autoren zurückgespiegelt. Die Hinweise eines Statistikers seien so gut und fundiert gewesen, dass er in Drostens Team aufgenommen wurde. Er wird nun Co-Autor der Studie, die in einem Update nun – voraussichtlich bis Ende der Woche – überarbeitet wird.
Drohungen und Hetze im Netz
In der Zwischenzeit geht die Diskussion auf Twitter weiter. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach postete einen Briefumschlag mit einem kleinen Röhrchen mit dem Aufdruck „2019-nCoV positiv“. Auf einem weiteren Zettel stand: „Trink das, dann wirst du immun.“
Dazu kommentierte Lauterbach:
Morddrohungen bis zu Beleidigungen aller Art, einige von uns müssen viel hinnehmen. Daher sollte jeder mit Restbestand von Charakter die Hetze im Netz gegen Virologen, Epidemiologen oder Politiker einstellen. Es animiert Leute, die unberechenbar sind. Denkt an unsere Familien pic.twitter.com/mOzXAnNLge
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) May 26, 2020
Kurz darauf meldete sich Drosten. „Dasselbe Paket habe ich heute auch bekommen.“
Zudem twitterte Drosten:
Nachdem sich gestern alle vier deutschsprachigen Statistik-Kritiker vom #Bild-Artikel distanziert haben, wurden heute englische Statistiker für einen weiteren Angriff missbraucht. Auch diese haben sich allerdings postwendend distanziert. https://t.co/fZInDNfouJ
— Christian Drosten (@c_drosten) May 27, 2020
In der Anmerkung von Kevin McConway heißt es, dass er sich von Zeitungsangriffen auf Drosten und seinem Team distanzieren wolle. „Wir gehen davon aus, dass die Gruppe weiter an der Viruslast arbeitet und die statistische und medizinische Position deutlicher machen wird. Zu den nicht-statistischen Aspekten können wir uns nicht äußern.“
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