Intensivkrankenpfleger zerpflückt Politik der Bundesregierung während Live-Pressekonferenz
Diese Corona-Pressekonferenz hatte einiges an Überraschungen zu bieten. Zumindest für Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Auf der gestrigen Bundespressekonferenz am 29. April hatten Spahn und der Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler einen Intensivkrankenpfleger als Gast eingeladen.
Ricardo Lange aus Berlin sollte über die dramatische Corona-Situation auf den Intensivstationen berichten. Was Lange aber zu sagen hatte, hat Spahn offenbar nicht nur gefallen.
Zu Beginn waren Spahn und Wieler noch guter Dinge. Sie dankten Lange für seine Anwesenheit und Spahn kündigte ihn mit folgenden Worten an:
„Ärzte und Pflegekräfte arbeiten seit Monaten, spätestens seit Beginn der zweiten Welle am Anschlag auf vielen Intensivstationen und deswegen bin ich dankbar, dass Ricardo Lange heute auch mit dabei ist.“
Damit, dass der Intensivpfleger seine ehrliche Meinung kundtun würde, hatte wohl keiner so wirklich gerechnet.
„Die Pflege arbeitet seit vielen Jahren schon am Limit, aber leider hat es bislang in diesem Umfang niemanden interessiert“, eröffnete Lange sein Statement erfrischend direkt.
Und weiter: „Bis heute habe ich noch kein schlüssiges und funktionierendes Konzept vorgelegt bekommen, was in Zukunft zum einen solche Szenarien verhindert, aber auch uns Pflegekräfte in unserer Arbeit unterstützt und ein normales Familienleben wieder möglich macht.“
Gerne stehe er dem Bundesgesundheitsministerium und somit auch Herrn Spahn dafür in Zukunft weiterhin zur Verfügung, so Lange. Spahns Lächeln wirkte nach diesem kleinen Seitenhieb etwas gequält.
Personalmangel ist Hauptproblem, nicht Corona
Auf die Frage eines Reporters, was Lange von der Strategie Spahns und der Bundesregierung halte, die Kontrolle der Pandemie an der Auslastung der Intensivstationen auszurichten, bekundete Lange seine Kritik unverblümt offen:
Auf den Intensivstationen gebe es ein breites Spektrum von Krankheiten, nicht nur Corona. Viele Notfall-Patienten könnten nicht mehr aufgenommen werden und müssten dann in andere Abteilungen verlegt werden, wo das Personal aber keine Erfahrung mit intensivpflichtigen Patienten hätte. Diese Strategie sei sehr problematisch und führe regelmäßig zu Notfallsituationen. Das Kernproblem sei aber der Mangel an Kapazitäten und Ärzten – Betten gebe es genug.
Das ließ Spahn offenbar ungern auf sich sitzen. Mit einem Gegenargument versuchte er Lange zu bremsen. Es sei „nicht Strategie der Bundesregierung, dass die Intensivstationen voll werden sollen“, im Gegenteil, so Spahn. Man wolle die Inzidenzen runterbringen, „bevor Intensivstationen an ihre Belastungsgrenzen kommen“.
Die Intensivstationen seien aber schon voll, gab Intensivpfleger Lange zurück. Man müsse wissen, dass Intensivstationen schon voll und aufgrund von Personalmangel deutlich überlastet waren, bevor es Corona gab, wiederholte Lange. Corona käme nur „on top“ oben drauf. Mit dieser Aussage bestätigte er, was Kritiker der Bundesregierung vorwerfen.
Diese Debatte hätte man nicht erst jetzt, sondern schon vor vier, fünf Jahren führen müssen, betonte der Intensivpfleger.
„Und hätte man früher gehandelt, und hätte man den Personalmangel früher ernst genommen, dann hätten wir heute eine deutlich entspannte Situation, weil wir eben viel mehr Betten hätten belegen, aber auch betreuen können.“
„Reitschuster“ kommentiert das spannende Geschehen in seinem Video-Bericht so: „Wäre es ein Box-Kampf, dann müssten spätestens jetzt die Mediziner in den Ring, um Herrn Spahn zu versorgen.“
Bonus? Welcher Bonus?
Die Situation spitzte sich zu, als ein Reporter fragte, ob Lange den Pflegebonus erhalten und sich schon bei Herrn Spahn bedankt hätte.
„Pflegebonus? Nö.“ Der Pflegebonus wäre von Herrn Spahn oder generell von der Regierung als Anerkennung für die Pflege im letzten Jahr versprochen und groß angekündigt worden. Mit dem Sinken der Fallzahlen wäre allerdings auch die Debatte um den Pflegebonus abgeflacht, holt Lange Vergessenes in Erinnerung.
„Aus 1.500 Euro wurden 1.000 Euro“ und „aus Pflege wurde Altenpflege und Ambulante-Pflege.“ Mittlerweile hätten einige wenige auf den Intensivstationen an landeseigenen Häusern diesen Bonus bekommen. Er selber aber nicht, da er nicht in einer Klinik angestellt, sondern bei einem Zeitarbeitsunternehmen arbeite und somit aus der Bonus-Debatte völlig ausgeschlossen sei.
Dieser Bonus habe die Kollegenschaft ohnehin eher gespalten. „Erst wird man beklatscht und bejubelt.“ Dann habe niemand mehr hingeschaut, als im Sommer die Infektionszahlen sanken.
Allerdings würde er es statt Geld sowieso lieber vorziehen, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern würden.
Zu guter Letzt äußerte Lange noch seine Meinung zu den Corona-Maßnahmen der Regierung.
Ihn störe an den Maßnahmen, dass sie „so wirr sind“ und sich „ständig ändern“. Je verrückter die Maßnahmen seien, desto weniger könnten die Menschen durch diese durchsehen, desto mehr wären sie verunsichert und würden sich infolge dessen umso weniger daran halten. (aa)
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