Kassenärztechef Gassen: Regierung operiert „unverantwortlich mit Endzeitszenarien“

Der Bundesvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KBV) warnt von Panikmache mit der Delta-Variante und davor, den Impf-Druck auf Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zu erhöhen.
Titelbild
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (links) und KBV-Vorsitzender Dr. Andreas Gassen (Mitte) bei der Bundespressekonferenz am 01. April 2021 in Berlin.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 1. Juli 2021

In die Diskussion um die Delta-Variante des Corona-Virus (SARS-CoV-2) schaltete sich nun auch der Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, ein und warnte vor absichtlicher Panikmache in einer in Teilen „fast schon hysterisch“ verlaufenden Debatte.

„Es ist unverantwortlich, immer wieder mit Endzeitszenarien zu operieren“, so der Chef der 17 regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und oberster politischer Interessenvertreter der rund 180.000 in Praxen ambulant tätigen Ärzte und Psychotherapeuten.

Delta-Alarmismus und Kinder-Impfung

Gassen sprach im Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) über seine Einschätzung der Delta-Variante in der Pandemie und dass der „von einigen verbreitete Alarmismus“ fehl am Platze sei.

Zum einen habe man so niedrige Infektionszahlen wie vor einem Jahr, zum anderen breiteten sich Mutation aus, was bei einer Viruspandemie keine Überraschung sei. Die Delta-Variante werde demnach schon Ende Juli hierzulande dominierend sein.

Sie sei zwar ansteckender, aber nach heutigen Erkenntnissen nicht wesentlich gefährlicher als die bisherigen Varianten. Gassen verwies darauf, dass, auch wenn die Infektionszahlen wieder steigen würden, es nicht unbedingt mehr schwere Krankheitsfälle geben müsse, auch mit Sicht auf die Impfungen hin.

Angesichts der Forderungen des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach an die Ständige Impfkommission des RKI (STIKO), wegen der Delta-Variante endlich eine Impfempfehlung auch für Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren auszusprechen, sagte Gassen, dass dies „hochproblematisch und wissenschaftlich fragwürdig“ sei.

In der STIKO säßen die „wirklichen Experten für Impfungen“. Sie hätten nach aktueller Datenlage entschieden. Auch das Forschungsinstitut der KBV, das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), habe sich alle Daten und Studien aus Großbritannien „noch einmal sehr genau angeschaut“, versichert Gassen. Bisher konnte man aber keine belastbaren Zahlen finden, „dass mit Delta infizierte Kinder und Jugendliche in England tatsächlich schwerer erkranken und deshalb vermehrt im Krankenhaus behandelt werden müssen“.

Der STIKO rät Gassen daher, bei ihrer Haltung zu bleiben, solange sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu nicht veränderten: „Es ist unverantwortlich, jetzt den Druck auf die Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern zu erhöhen“.

Er verwies diesbezüglich auch auf die Gefahren von Nebenwirkungen. „Denken Sie an die aufgetretenen Herzmuskelentzündungen bei Jungen im Teenageralter in den USA und Israel nach einer Impfung mit mRNA-Impfstoffen.“ Allerdings könnte sich die Risikoeinschätzung bei der Impfung auch ändern, wenn sich die Delta-Variante als gefährlicher in dieser Altersgruppe erweisen sollte.

Regierung verliert das Vertrauen

Laut dem Kassenärzte-Chef sei die Bundesregierung gerade dabei, ihr Vertrauen in der Bevölkerung zu verspielen. Sie reagiere stumpf mit denselben Mechanismen wie vor einem Jahr, obwohl die heutige Situation eine ganz andere sei.

Laut Gassen habe die Bevölkerung ein Anrecht darauf, dass man sich „seriös“ mit allen neuen Entwicklungen der Pandemie auseinandersetze und „mit angemessener Ruhe und Vorsicht reagiert“. Die Menschen hätten zumindest ein Mindestmaß an Verlässlichkeit verdient.

Seiner Meinung nach sei es schon immer falsch gewesen, „nur starr auf die sogenannte Inzidenz zu schauen“. Es werde immer absurder, dies zum Maßstab des Handelns zu machen, „angesichts des enormen Impffortschritts“.

Die Infektionszahl dürfe daher nicht mehr die entscheidende Rolle spielen. Gassen befürchtet aber, dass bei steigenden Zahlen es wieder Forderungen nach einem Lockdown geben werde.



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