Philosoph: „Ein Austausch des Spitzenpersonals der Union ist überfällig“

Er gilt als einer der einflussreichsten Denker im Lande. Unter Gerhard Schröder war Julian Nida-Rümelin Staatskulturminister. Das Handelsblatt führte nun ein höchst interessantes Interview mit dem Philosophen. Ein Austausch des Spitzenpersonals sei sowohl in der CSU wie auch der CDU überfällig.
Von 11. Juli 2018

Im Auftrag des Cicero ermittelte eine Studie im September 2008 und dann nochmal 2013, welche Wissenschaftler und Intellektuelle die größte Deutungsmacht beanspruchen können, weil sie am häufigsten in Leitmedien und wissenschaftlichen Publikationen zitiert werden. Beide Male belegte Julian Nida-Rümelin im Bereich Philosophie den dritten Platz nach Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk. Das Handelsblatt führte vor wenigen Tagen ein sehr interessantes Interview mit dem politisch sehr engagierten Philosophen.

Ein Austausch des Spitzenpersonals der Union ist überfällig

Der Unionskompromiss im Aslystreit betreffe nur einen kleineren Teil der Migrationsthematik. Es gehe ja nur um diejenigen, die in einem anderen EU-Staat bereits registriert wurden, oder deren Asyl-Gesuch in einem anderen EU-Staat schon abgelehnt worden sei, und stehe unter dem doppelten Vorbehalt der EU-rechtlichen Zulässigkeit und der Rücknahmebereitschaft des betreffenden Staates. Dennoch aber, so betont das SPD-Mitglied, sei das Vorhaben wichtig, Bedingungen zu schaffen, damit rechtliche Regeln durchsetzbar seien. Denn dies schaffe ja die größten Irritationen in der Bevölkerung: aufwendige Verfahren, niedrige Anerkennungsquoten und doch bleiben die meisten im Land.

Die offenkundig Ressentiment-geladene Auseinandersetzung zwischen Seehofer und Merkel sei einer deutschen Bundesregierung absolut unwürdig. Sie zeige, dass ein Austausch des Spitzenpersonals überfällig sei. Und dann wörtlich:

Seehofer war allerdings seit dem Flüchtlingsherbst 2015 mit seinen politischen Einschätzungen meist näher an der Realität als Merkel.“

Die Uneinsichtigkeit der Kanzlerin verbaue ebenso eine konstruktive Politik, wie die Attitüde der beleidigten Leberwurst aus Bayern.

Die Währungsunion musste schiefgehen, ist schiefgegangen und konnte nur mit viel Mühe über die Runden gerettet werden – Mit der Migration ist es wieder so

Nach Einschätung von Nida-Rümelin waren wir knapp vor dem Zerbrechen Europas an dem Flüchtlingsstreit – und die Gefahr sieht er nicht als gebannt. Die jüngsten Gipfelbeschlüsse der EU würden einigen Sprengstoff bergen. Wieder einmal zeige sich, wie leichtfertig die Politik mit der Europäischen Union umgehe. Sie habe voreilig die Währungsunion etabliert – ohne Mechanismen der gemeinsamen fiskalischen Verantwortung zu schaffen. „Das musste schiefgehen, es ist schiefgegangen und konnte nur mit viel Mühe gerade noch so über die Runden gerettet werden“, so der Philosoph wörtlich.

Und jetzt sei es bei der Migration wieder so. Hier zu sagen, die Flüchtlingszahlen seien zurückgegangen, wir müssten uns um das Thema nicht mehr kümmern, sei völlig verantwortungslos. Zwar stimme es, dass der Migrationsdruck deutlich nachgelassen habe – und zwar durch politische Maßnahmen wie die Schließung der Balkan-Route (Anmerkung Jürgen Fritz: durch Sebastian Kurz gegen den Willen Merkels initiiert und durchgesetzt), den EU-Türkei-Pakt, die Vereinbarungen zwischen Italien und lybischen Akteuren noch unter der sozialdemokratischen Vorgänger-Regierung.

Aber schauen Sie sich die Situation in Afrika an. Südlich der Sahara wünscht sich ein Großteil der jungen Männer, nach Europa zu kommen. Der Druck wird nicht nachlassen.“

Hinzu komme, dass die nationalen Egoismen rechtspopulistischer Regierungen in Ungarn, Polen und jetzt auch noch Italien eine gemeinsame europäische Lösung sehr unwahrscheinlich machten.

Demokratische Staatlichkeit kann es ohne funktionierende Grenzen nicht geben – Grenzen sind konstitutiv für eine Demokratie

Über Seehofers Masterplan müsste man eine Satire schreiben. Das bayerische Parlament habe den Masterplan mehrheitlich befürwortet, ohne ihn zu kennen – das sei schon eine besondere Form der Regierungskunst. Dass wegen der Zurückweisungen an der Grenze bestimmter Flüchtlinge eine veritable Regierungskrise vom Zaun gebrochen werde, die in der Folge auch zu einer europäischen Krise wurde, sei ihm unerklärlich.

Klar sei aber: Demokratische Staatlichkeit könne es ohne funktionierende Grenzen nicht geben. Das Beispiel USA zeige: Wenn man mehr als zehn Millionen unregistrierte Menschen im Land habe, gefährde das die Demokratie. Grenzen sind konstitutiv für eine Demokratie – das gelte auch für Europa, das ja eine ergänzende staatliche Ordnung sei. Grenzsicherung bedeute aber nicht zwingend Grenzschutzanlagen und bewaffnetes Personal an den Grenzposten. Im Prinzip genüge es, wenn staatliche Regeln, geltendes Recht, konsequent umgesetzt werden, also zum Beispiel jene Zuwanderer konsequent und rasch abgeschoben werden, die keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben.

Es stimmt nicht, dass Lager außerhalb der EU zwingend unmenschlich sein müssen

Das Problem von Flüchtlingslagern sieht Nida-Rümelin darin, dass Tausende, womöglich Zehntausende Menschen auf engstem Raum aus ganz unterschiedlichen Ländern und Sprachregionen unter extremen Stressbedingungen zusammenleben. Wohin das führen könne, hätten wir im kleineren Maßstab in den vergangenen Jahren auch in Deutschland immer wieder gesehen. Die EU setze hier offensichtlich auf eine Abschreckungswirkung.

Geschlossene Lager sieht er in jedem Fall hochproblematisch. Aber es stimme nicht, dass Lager außerhalb der EU notwendigerweise unmenschlich seien müssten, wie Kritiker behaupten. Wir könnten das etwa in Jordanien sehen. Die Lager müssten in der Verantwortung der EU liegen oder der Vereinten Nationen – und nicht der dortigen Regierungen oder gar örtlicher Milizionäre, etwa wie in Libyen.

Durch Merkels Botschaft haben sich viele Menschen überhaupt erst auf den Weg gemacht – das ist Fakt, keine Polemik!

Merkels größter Fehler in der Flüchtlingskrise sei gewesen, keine Fehler einzugestehen. Ihre Entscheidung, den in Budapest gestrandeten Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen, wäre richtig gewesen, meint das SPD-Mitglied. Die Absicht, die nationalen Grenzen über eine unbegrenzte Zeit weiter offen zu halten, aber nicht. Das war falsch, so der Philosoph. Und vor allem:

Es gab keine europäische Abstimmung, keine Parlamentsentscheidung und keine kohärente politische Begründung ihrer langfristigen Strategie. Und dann sagte sie in einem Fernsehgespräch den Satz, dass staatliche Grenzen im 21. Jahrhundert ohnehin nicht mehr geschützt werden können. In einer Zeit, in der viele Bürger einen Kontrollverlust fürchteten, war das eine katastrophale Botschaft.“

Entgegen einem verbreiteten Eindruck lebten wir in einer Welt ganz überwiegend geschlossener Grenzen. Zudem sei Merkels Position widersprüchlich gewesen, denn die Außengrenzen Europas wollte die Kanzlerin ja sehr wohl schützen. Durch ihre Botschaft – und die Instrumentalisierung dieser durch Schlepperbanden – „haben sich viele Menschen überhaupt erst auf den Weg gemacht. Das ist Fakt, nicht Polemik!“

Spätestens seit 2015/16 kann niemand mehr sagen, es ginge auch mit offenen Grenzen

Man könnte es so ausdrücken, so Nida-Rümelin abschließend: In Unkenntnis oder in Fehleinschätzung der Lage habe Deutschland ein Experiment gestartet. Es lief zwischen September 2015 und März 2016. 

Seitdem kann niemand mehr sagen, es ginge auch mit offenen Grenzen. Wenn das Experiment fortgesetzt worden wäre, hätten wir einen Kollaps der staatlichen Institutionen erlebt … Es hätte unserer Bundeskanzlerin gut angestanden, dies einmal öffentlich einzugestehen und damit ihre herausgehobene Verantwortung für die politische Kultur im Lande wahrzunehmen.“

Hier kann das Interview im Original vollständig nachgelesen werden. Die gekürzte Fassung erschien zuerst bei Jürgen Fritz.

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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