Psychiater: „Seit 1995 werden Kinder zu unfähigen Erwachsenen erzogen“

Kinder werden zu unfähigen Erwachsenen erzogen – und das seit mehr als 20 Jahren, meint der Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Er fordert Eltern zu mehr Gelassenheit und weniger Medienkonsum auf. Nur so könne eine Generation entstehen, die ihrem Leben gewachsen ist.
Von 10. Juli 2017

Kinder werden zu unfähigen Erwachsenen erzogen – und das ist seit mehr als 20 Jahren Normalität in Deutschland geworden.

„Ich sehe seit dem Jahr 1995 eine Tendenz, dass Eltern die Launen ihrer Kinder immer weniger ertragen und ihnen einfach schnell das geben, was sie wollen, damit sie ruhig sind“, erklärt der Kinderpsychiater Michael Winterhoff im Interview mit „Business Insider“. 1995 war das Jahr, in dem die digitale Revolution eingesetzt habe, so Winterhoff.

Die digitale Welt sei Schuld: Sie überlaste die Eltern und verhindere, dass sie ihre Kinder auf das Leben vorbereiten, meint der Psychiater.

„Erwachsene agieren heutzutage nicht mehr. Sie reagieren nur. Auf ihr Smartphone, auf ihr Tablet, auf ihren Computer, auf ihr Kind. Und sie reagieren sofort“, so Winterhoff.

Auf diese Weise lernen die Kinder nicht, dass man im Leben nicht sofort alles bekommen kann, was man sich wünscht und dass man auch mal warten muss, erklärt Winterhoff.

Die Eltern befänden sich wegen der dauernden Reizüberflutung in einem ständigen „Katastrophenmodus“ und versuchten ihre Kinder möglichst schnell zu beruhigen. „Im schlimmsten Fall setzt man sie noch vor den Fernseher oder vor ein Tablet, dann sind sie für mehrere Stunden beschäftigt“, beklagt der Kinderpsychiater.

Den Kindern sofort die Sachen zu geben, die sie sich wünschen, sei ein gefährlicher gesellschaftlicher Trend, so Winterhoff.

Psychische und körperliche Probleme bei übermäßigem Medienkonsum

In einer BLIKK-Medien-Studie (Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation) von November 2016 heißt es, dass seit Jahren „erhebliche Missbrauchstendenzen im Umgang mit digitalen Medien“ unter Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen sind.

75 Prozent der 2- bis 4-Jährigen in Deutschland spielen bereits 30 Minuten lang mit dem Smartphone.

(BLIKK-Medien-Studie 2016)

Die übermäßige „digitale Mediennutzung“ führe zu psychischen, kognitiven und körperlichen Problemen, heißt es in der Studie.

Die fehlenden Nutzungskompetenz von digitalen Medien führe zu Entwicklungs-Auffälligkeiten bei Kindern, sagt der Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapie in Köln, Prof. Dr. Rainer Riedel. Auch hätten Kinder, die viel Zeit in der digitalen Welt verbringen, einen höheren Body Mass Index und würden mehr Süßgetränke konsumieren, so Riedel.

Auch habe die frühe und übermäßige Nutzung der digitalen Medien negative Auswirkungen „auf die Sprachentwicklung, die schulischen Fertigkeiten, insbesondere der Rechtschreibung und auf die Konzentrationsfähigkeit“ der Kinder, erklärt Dr. Uwe Büsching, Kinder- und Jugendarzt, Mitglied des Vorstandes BVKJ.

Keine Frustrationstoleranz bei Kindern…

Die elterlichen Verhaltensweisen und der übermäßige Medienkonsum führen schließlich dazu, dass Kinder keine Frustrationstoleranz entwickeln können, erklärt Winterhoff.

Die Frustrationstoleranz ist eine Fähigkeit, mit der Menschen Situationen aushalten, die ihnen nicht gefallen – wie z. B. stundenlang in einem Stau stehen, ohne auszurasten oder jahrelang auf ein Ziel hinarbeiten, ohne aufzugeben.

Diese Fähigkeit sei Menschen aber nicht in die Wiege gelegt, sondern müsse entwickelt und erworben werden.

„Die Frustrationstoleranz sollte bei Kindern schon ab dem achten oder neunten Monat ausgebildet werden“, sagt Winterhoff. Ab diesem Alter sollte das Baby also lernen, dass es nicht sofort alles erhält, wenn es nur laut genug schreit, sondern auch mal warten muss.

„Davor ist das sinnlos. Wenn Babys schreien, dann wollen sie nun einmal sofort etwas trinken oder in den Arm genommen werden“, so Winterhoff.

… Folge: Arbeits- und lebensunfähige Erwachsene

Wenn die Eltern ihre Babys nach dem achten Monat weiterhin verwöhnen, werde es sich nicht nur negativ auf die Kindheit auswirken, sondern auch fatale Folgen für das Erwachsenenalter haben.

„Wir haben jetzt schon fast 60 Prozent an jungen Erwachsenen, die nicht arbeits- und lebenstüchtig sind und es werden in naher Zukunft sicher noch mehr“, meint der Psychiater.

Bildungssystem unterfordert Kinder

Nicht nur die Eltern würden diesen Zustand fördern, sondern auch das heimische Bildungssystem, das die Kinder unterfordere.

„Alles in der Schule muss nach Lust und Laune erlebt werden, die Lehrer werden als Lernbegleiter bezeichnet und keiner zeigt den Kindern, dass man auch mal stillsitzen und zuhören muss“, beklagt Winterhoff.

Für mehr Gelassenheit: Rückzugsorte von der digitalen Welt

Alle, die Kinder erziehen – seien es Eltern, Großeltern, Lehrer – sollten für einige Stunden in der Woche abschalten und dadurch gelassener werden. Sie bräuchten „Rückzugsorte“: „Das ist für den einen Yoga, für den anderen die Kirche oder der Wald. Hauptsache, man zieht sich für ein paar Stunden in der Woche aus der schnellen digitalen Welt zurück“, empfiehlt Winterhoff.

Auf diese Weise könnten Erwachsene ihre „Intuition“ wiedererlangen, dank der sie wissen, wann sie einem Kind das geben, was es benötigt – und wann sie es einfach schreien lassen sollten, erklärt der Kinderpsychiater.

Auch Kinder sollten von der digitalen Welt abschalten können. Eltern sollten solche „digitalfreie“ Räume für ihre Kinder schaffen – nur so könne die gefährliche gesellschaftliche Tendenz gestoppt werden, meint Winterhoff in seinem Buch „Die Wiederentdeckung der Kindheit“.

„Einer ungesunden Nutzung digitaler Medien“ entgegenwirken

Auch der Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapie, Prof. Dr. Rainer Riedel von der BLIKK Medien-Studie tendiert dazu, denn nur durch die Unterstützung der Eltern könne „einer ungesunden Nutzung digitaler Medien“ entgegengewirkt werden:

Wir erkennen, dass Eltern und Kinder eine digitale Medien-Kompetenz erwerben müssen, um sicherzustellen, dass heranwachsende Kinder einen guten Umgang mit digitalen Medien ohne mögliche negative gesundheitliche Auswirkungen oder Einschränkungen der Lebensqualität im beruflichen und privaten Umfeld entwickeln. Außerdem ist bei Kindern mit bestimmten Risikofaktoren für die Entwicklung eines missbräuchlichen oder suchtartigen Umgangs mit digitalen Medien besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung der Eltern geboten, um möglichst frühzeitig einer ungesunden Nutzung digitaler Medien entgegenzuwirken.“ (Prof. Dr. Rainer Riedel, Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapie)



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