RKI warnt vor exponentiellem Anstieg der Corona-Infektionen – Experten warnen vor Rechenmodellen

Obwohl beide einräumen, dass die Corona-Situation in Deutschland derzeit beherrschbar ist, warnen das RKI und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor der Gefahr einer „unkontrollierten Verbreitung“. Experten hingegen warnen davor, sich auf Rechenmodelle zu verlassen.
Von 8. Oktober 2020

Das Robert Koch-Institut (RKI) hat anlässlich der neuen Corona-Fallzahlen vor einer „unkontrollierten Verbreitung“ des Virus gewarnt.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte in einer gemeinsamen Pressekonferenz am Donnerstag, 7. Oktober, dass die Zahl der Neuinfektionen „besorgniserregend“ sei. Deutschland sei zwar weiterhin „der Fels in der Brandung“ in Europa, aber die steigenden Fallzahlen in den umliegenden europäischen Ländern könnten auch für Deutschland gefährlich werden, sagte der Minister.

Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, hält es für möglich, dass „wir bald mehr als 10.000 neue Fälle pro Tag sehen“. Es sei möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreite.

Auch Spahn befürchtet einen exponentiellen Anstieg der Corona-Infektionen: „Wir wollen einen exponentiellen Anstieg und eine Situation vermeiden, in der wir die Kontrolle verlieren“, sagte Spahn auf der Pressekonferenz. Das Wachstum an Infektionen sei signifikant.

Die Zahl der Toten, der Patienten auf Intensivstationen und die der Infizierten, die künstlich beatmet würden, sei jedoch weiterhin niedrig, sodass das Gesundheitssystem mit der Situation gut fertig werde, sagte Spahn.

Wieler wies darauf hin, dass sich die Zahl der Intensivpatienten innerhalb der letzten vier Wochen auf 470 verdoppelt habe. Zwar sei die Zahl niedrig, doch befürchtet Wieler, dass sich wieder viele Ältere mit dem Corona-Virus ansteckten. Wenn sich wieder mehr ältere Menschen ansteckten, gingen die schweren Verläufe und Todeszahlen wieder hoch, so der RKI-Chef.

Experte warnt vor Rechenmodellen

Der CEO des britischen Finanzdienstleisters Convex, Mike Driver, hat im Magazin „Spiked“ vor einer Überschätzung von wissenschaftlichen Modellen gewarnt, die weltweit zu Lockdown-Maßnahmen geführt haben.  Solche Rechenmodelle würden von Experten fanatisch geliebt, bewahrheiteten sich in der Realität aber nicht immer.

Derzeit werde die Politik in Großbritannien von Neil Fergusons berüchtigtem kaiserlichen Modell und dessen „Vorsorgeprinzip“ bestimmt, sagte Driver. Dieses Berechnungsmodell und auch der Lockdown hätten sich jedoch als Fehler herausgestellt.

Modelle scheinen die Gebildeten stärker zu verführen als alle anderen. Wenn sie den Eindruck erwecken, nur schwer genug verständlich zu sein, erscheinen sie ihnen noch viel nachvollziehbarer, als sie tatsächlich sind“, sagte Driver.

Fondsmanager George Cooper wies daraufhin, dass das Vorsorgeprinzip üblicherweise scheitere. Im Fall von COVID-19 sei man beim Berechnungsmodell davon ausgegangen, dass der Lockdown Todesfälle verhindere. Dabei wurden andere negative Konsequenzen ausgeblendet.

Aber in der Realität haben die ‚vorsorglichen‘ Maßnahmen Krebstote, psychische Problemen, ökonomische Verwerfungen und eine Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten nach sich gezogen“, sagte Cooper.

Dass sich die verbreiteten Schreckensszenarien über Hunderttausende Tote vor dem Lockdown nicht bewahrheitet hätten, sei darauf zurückzuführen, dass die Modelle von einer gleichen Gefährdung aller Alters- und Bevölkerungsgruppen ausgegangen seien. Junge Menschen hätten sich im Umgang mit dem Virus jedoch als deutlich resilienter erwiesen.

Falsche Interpretationen führen zu falschen Entscheidungen

In einem „ARD“-Beitrag vom vergangenen Montag plädierten mehrere Experten dafür, den Umgang mit der Pandemie nicht allein auf die bloße Anzahl der positiv auf das Virus getesteten Personen auszurichten. Professor Thorsten Bauer, Chef der Emil von Behring-Lungenklinik in Berlin, betonte: „Wir müssen von diesen Zahlen wegkommen.“ Die bloße Nennung der Zahl an positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten sei für sich alleine noch nicht aussagekräftig.

Er plädiert dafür, die Zahl der positiv Getesteten die Zahl der dadurch bedingten stationären Krankenhausaufnahmen gegenüberzustellen. Die bloßen absoluten Infektionszahlen sagten Medizinern lediglich, wie viele das Virus in ihrem Körper hätten, aber nicht wie viele tatsächlich krank seien.

Auch die „ARD“ selbst machte anhand einer eigenen Grafik deutlich, dass im Frühjahr während der heißen Phase der Corona-Pandemie etwa 20 Prozent der damals deutlich zahlreicheren positiv auf Corona Getesteten stationär in Kliniken behandelt werden mussten – heute hingegen nur noch sechs Prozent von immer noch deutlich weniger Infizierten.

Falsche Interpretationen der Zahlen könnten Unruhe in der Bevölkerung, politische Fehlentscheidungen und eine ineffiziente Nutzung der Gesundheitsinfrastruktur verursachen, geben Kritiker zu bedenken.

„Zahl der positiv Getesteten und jene der schwer Erkrankten entkoppelt“

Auch die Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen, Professorin Ursel Heudorf, plädierte dafür, neben der reinen Zahl an positiv Getesteten auch die Zahl der behandlungsbedürftigen Betroffenen in der Berichterstattung zu erwähnen, wie dies auch das Robert Koch-Institut (RKI) täglich praktiziere. Diese Differenzierung werde immer noch zu selten vorgenommen. Sie sei aber gerechtfertigt, weil sich – anders als im Frühjahr – die Zahl der positiv Getesteten und die Zahl der schwer Erkrankten oder gar Verstorbenen voneinander entkoppelt hätten.

Die Kritik an der einseitigen Ausrichtung an der Zahl positiv auf Corona Getesteter knüpft inhaltlich an jene an, die unter anderem der Harvard-Epidemiologe Dr. Michael Mina bereits Ende August in der „New York Times“ (NYT) artikuliert hatte.

(Mit Material von Reuters und dts)



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