Scholz will Migrationswende – Gegenwind von Grünen: „Konjunkturprogramm für Rassismus und Rechtsradikale“

Mit mehr Abschiebungen den Sozialstaat retten: Das hat Kanzler Scholz in einem Interview mit dem „Spiegel“ als neue Lösung ausgegeben. Die angekündigte Migrationswende stößt auf Skepsis in der Union – und deutliche Kritik bei Linken und Grünen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnt vor einem Flächenbrand in Nahost.
Bundeskanzler Olaf Scholz stößt mit seiner Migrationswende nicht nur auf Zuspruch.Foto: Christoph Soeder/dpa
Von 22. Oktober 2023

Die schlechten Umfragewerte der Ampelkoalition und Umfragen, die Migration als neues Angstthema in Deutschland ausmachen, haben Bundeskanzler Olaf Scholz auf den Plan gerufen. Hatte er bereits im September verkündet, die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland sei „zu hoch“, legt er nun im „Spiegel“-Interview nach. Er verwendet das Wort zwar nicht selbst, einige Medien wollen aber bereits eine „Migrationswende“ identifiziert haben.

Scholz forderte eine noch genauere Unterscheidung unter den Einwanderungswilligen. Es gebe eine Zuwanderung von Arbeitskräften, die man brauche, und politisch Verfolgte, die Asyl suchten. Beide seien in Deutschland willkommen. Andererseits erklärte der Kanzler:

Wer weder zu der einen, noch zu der anderen Gruppe gehört, kann nicht bei uns bleiben. Deshalb begrenzen wir die irreguläre Migration nach Deutschland – es kommen zu viele.“

Bündel an Maßnahmen gegen irreguläre Migration vorgeschlagen

Scholz kündigte an, das EU-Parlament werde einen „neuen Solidaritätsmechanismus“ beschließen, der Ankunftsländer zur Registrierung von Geflüchteten verpflichtet. Zudem werde man Georgien und Moldawien als sichere Herkunftsländer einstufen.

Der Kanzler will zudem die „Anreize dafür senken, sich hier irregulär bei uns aufzuhalten“. Deshalb unterstütze man Länder, wenn sie Geld- durch Sachleistungen oder eine Bezahlkarte ersetzen wollten. Außerdem wolle man Geflüchteten „gemeinnützige Arbeit anbieten“.

Prozesse im Zusammenhang mit der Ermittlung einer Bleibeperspektive will Scholz straffen. Die Digitalisierung der Ausländerbehörden müsse zügig voranschreiten. Zudem sollen die erforderlichen Verfahrensabläufe beschleunigt werden, um zu gewährleisten, dass Deutschland „mehr und schneller abschieben“ könne. Zusätzliche Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern hält Scholz ebenfalls für erforderlich.

Bundeskanzler über Zuwanderung und Sozialstaat

Scholz stellt in Abrede, dass es die Ergebnisse der laut Verfassungsschutz in Teilen rechtsextremen AfD gewesen seien, die der Migrationswende Pate stünden. Die Regierung habe keine taktische Politik betrieben, sondern seit Längerem an der „konkreten Lösung von Problemen“ gearbeitet.

Die Politik seines Kabinetts sei „nicht vom Ressentiment getragen“. Deutschland habe „als Staat das Recht zu definieren, wen wir hier aufnehmen wollen“. Es gehe darum, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Der Kanzler erklärt weiter:

Wer eine unbegrenzte Zuwanderung will, muss so ehrlich sein und sagen, dass wir dann unseren Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, nicht aufrechterhalten könnten.“

Problematische Parallelstrukturen nicht heraufzubeschwören, könne sich niemand ernsthaft wünschen, so Scholz. Deshalb „macht uns das nicht zu Unmenschen“. Man müsse „eine gewisse Härte“ an den Tag legen, um die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu erhalten.

Trittin: Scholz betreibt „Konjunkturprogramm für Rassismus und Rechtsradikale“

Auf der Linken stoßen die Aussagen von Scholz auf Kritik. Die Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, warf Scholz auf X vor, dieser würde „in den Chor der Rechten einstimmen“. Stattdessen solle Scholz für bezahlbare Wohnungen, eine bessere Ausstattung der Kommunen und eine Abschaffung von Arbeitsverboten sorgen.

Besonders heftig ist die Kritik von Jürgen Trittin aus den Reihen des eigenen grünen Koalitionspartners. Dieser nahm Bezug auf den Asylkompromiss von 1993 und erklärte:

30 Jahre nach 1993 sollten wir doch gelernt haben, dass Abschotten, Abschrecken, Abschieben keine Migrationspolitik ist, sondern ein Konjunkturprogramm für Rassismus und Rechtsradikale.“

FDP-Vize Wolfgang Kubicki nannte die Äußerung gegenüber der „Deutschen Presse-Agentur“ „nur noch unanständig“. Den Grünen warf er vor, diese würden selbst „mit ihrer weltfremdem Position in der Migrationspolitik gegen die Mehrheit der Menschen im Land Tatsachen schaffen wollen“.

Merz fordert Scholz zur Bildung paritätischer Arbeitsgruppe auf

Aus der Union kommt wiederum Kritik, Scholz kündige lediglich an. In diese Richtung sei auch das Krisengespräch mit ihm und den Ministerpräsidenten Stephan Weil und Boris Rhein vor wenigen Tagen einzuordnen, meinte CDU-Chef Friedrich Merz:

Das Einzige, was bisher passiert ist, ist ein ganz gutes Abendessen am letzten Freitag, aber sonst nichts.“

Der CDU-Chef forderte auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Braunschweig schnellere Entscheidungen und eine „kleine, paritätisch besetzte Verhandlungsgruppe“. Diese solle aus Vertretern von SPD und Union zusammengesetzt sein und Gespräche über „Möglichkeiten der Begrenzung der irregulären Migration“ führen. Merz erklärte weiter, man habe beim Thema Migration nicht „ein bis zwei Jahre Zeit“:

Wir müssen in diesem Jahr noch zu Entscheidungen kommen, damit es nach dem Winter aufhört mit dieser ungesteuerten und unregulierten illegalen Migration in die Bundesrepublik Deutschland.“

Auch der CSU-Vorsitzende Markus Söder warf der Ampel unzureichendes Handeln vor. Es müsse eine Grenzpolizei für ganz Deutschland geben, so der bayerische Ministerpräsident. Die jüngst von Bundesinnenministerin Nancy Faeser angemeldeten temporären Grenzkontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz reichten nicht aus.

Junge Union warnt Mutterpartei vor „Pseudodeal“ mit Scholz

Der Vorsitzende der Jungen Union (JU), Johannes Winkel, selbst warnt, die Union dürfe sich „von Kanzler Scholz für irgendeinen Pseudodeal bei der Migration einkaufen lassen“. Fraktion und Partei müssten jetzt „sehr vorsichtig sein“, meinte Winkel gegenüber der „Rheinischen Post“.

Deutschland könne „das Versprechen eines weltweiten Asyls für alle nicht mehr einhalten“, so der JU-Chef. Deshalb brauche man Kontingentlösungen. Winkel fügte hinzu:

Wenn Kanzler Scholz es nicht mehr hinbekommt, seine Koalition zu führen, wird es Neuwahlen geben müssen.“

Kritik an der Migrationswende kommt unterdessen auch von den Gewerkschaften. Die niedersächsische Verdi-Sektion beim Online-Handelsriesen Amazon äußerte auf X:

Irreguläre Migration und Abschiebungen

Die Zahl der irregulär über die Grenze nach Deutschland kommenden Flüchtlinge wird in diesem Jahr so hoch wie seit 2016 nicht mehr sein. Von Januar bis September seien bisher 92.119 unerlaubt eingereiste Menschen registriert worden, teilte die Bundespolizei am Samstag in Potsdam mit. Diese Zahl wurde zuletzt 2016 – nach dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise – mit 111.843 übertroffen. Im vergangenen Jahr waren es 91.986 Menschen.

Im September 2023 zählte die Bundespolizei 21.366 unerlaubt eingereiste Flüchtlinge – etwa doppelt so viele wie im Juli mit 10.714. Es war der höchste Monatswert seit Februar 2016, als 25.650 Menschen registriert wurden.

Kanzler Scholz hatte erst jüngst ein „Rückführungspaket“ angekündigt. Dieses soll die irreguläre Migration und Abschiebungen beschleunigen. Kritiker reden im Zusammenhang mit der Migrationswende von populistischer Anbiederungspolitik. Sie weisen darauf hin, dass nur eine geringe Anzahl an Personen in Deutschland tatsächlich kurzfristig abgeschoben werden könne. Der größte Teil der abgelehnten Asylsuchenden verfüge über einen rechtskräftigen Duldungsbescheid. „In großem Stil abschieben“, wie Scholz es angekündigt hatte, könne man schlichtweg nicht.

(Mit Material von dpa und dts)



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