Seehofer „bestellte“ wissenschaftliche Rechtfertigung für harten Corona-Lockdown
Als die deutsche Bundesregierung im März 2020 harte Lockdown-Maßnahmen verordnete mit dem Ziel, die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus einzudämmen, stützte sie sich dabei auf die Expertise mehrerer renommierter Forschungseinrichtungen.
Diese würden, so hieß es damals, übereinstimmend von einem Katastrophenszenario ausgehen, sollte der Lockdown nicht erfolgen, was der Politik keine Alternative lasse. Nun sind Anhaltspunkte dafür aufgetaucht, dass diese Szenarien von der Politik selbst erst in Auftrag gegeben wurden.
„Lead the Science“?
Der „Welt am Sonntag“ ist nach eigenen Angaben ein mehr als 200 Seiten umfassender interner E-Mail-Schriftwechsel zwischen Spitzenbeamten des Bundesinnenministeriums aus jener Zeit zugegangen. Juristen hätten zuvor gegen das Robert Koch-Institut die Einsichtnahme erstritten.
Der Inhalt des Schriftwechsels legt die Annahme nahe, dass es nicht in erster Linie die Politik war, die mit ihrer Lockdown-Entscheidung der Wissenschaft gefolgt war, sondern dass sie eher noch im Vorfeld selbst die Wissenschaft geführt hat.
Das Ministerium gab demnach die Ausarbeitung eines „Geheimpapiers“ mit einem von vornherein festgelegten Ergebnis in Auftrag: Die Wissenschaftler sollten Szenarien entwerfen, auf deren Basis sich Empfehlungen hin zu einem umfassenden Lockdown ableiten ließen. Die Politik konnte sich in weiterer Folge ihrerseits dann gegenüber der Öffentlichkeit auf diese Empfehlungen berufen.
Seehofers Staatssekretär stimmte „Geheimpapier“ ab
Der „Welt“ zufolge soll der Staatssekretär Markus Kerber dabei eine federführende Rolle gespielt haben. Er habe Forscher angeschrieben und darum gebeten, ein Szenario zu entwerfen, das „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ rechtfertigen sollte.
In nur vier Tagen stand das Dokument – „dem Schriftverkehr zufolge in nur vier Tagen in enger Abstimmung mit dem Ministerium“. Anschließend ging es als vermeintliches „Geheimpapier“ an ausgewählte Medien.
Lockdown soll „Kernschmelze“ verhindern
Die Inhalte des Papiers hatten es in sich: So war die Rede von mehr als 57 Millionen Menschen, die sich mit Corona infizieren könnten, und mehr als einer Million Toter, sollte das gesellschaftliche Leben ohne Einschränkungen weitergeführt werden. Dieses „Worst-Case-Szenario“ wolle man durch eine Reihe von Maßnahmen verhindern.
Außerdem hieß es, dass es zu einer „Kernschmelze“ der deutschen Wirtschaft mit einem BIP-Einbruch um 20 Prozent kommen würde, sollte sich die Pandemie ungehindert ausbreiten können.
In dem „Geheimpapier“, das am Ende an die Medien ging, wurde dann explizit auf ein „Expertenteam von RKI, RWI, IW, SWP, Universität Bonn/University of Nottingham Ningbo China, Universität Lausanne und Universität Kassel“ Bezug genommen. Dieses hätte die genannten Zahlen bestätigt.
Am 18. März soll Bundesinnenminister Horst Seehofer das Papier offiziell in Auftrag gegeben haben. Es umfasste am Ende 17 Seiten und trug den Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“.
Corona-Maßnahmen gegen Bürger „nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt“
Bezüglich der strategischen Vorgehensweise hieß es in dem Dokument bezüglich der Kommunikation: „Der Worst Case ist mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen.“
Diesen zu vermeiden solle als „zentrales politisches und gesellschaftliches Ziel“ definiert werden, wobei „Politik und Bürger […] dabei als Einheit agieren“ müssten.
Es müsse den Bürgern nachvollziehbar gemacht werden, dass die getroffenen Maßnahmen wie soziale Distanzierung und aktives Testverhalten „nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt werden müssen und können“.
Durch von entsprechender Kommunikation begleitetes Vorgehen werde ein „der Lage angemessenes und schrittweises Eingreifen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe“ erst ermöglicht und „die Akzeptanz und Sinnhaftigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erhöht“.
Bundesregierung müsse „umfassende Mobilisierungskampagne starten“
Die Regierung müsse, so heißt es in dem Papier weiter, „zu einem mobilisierenden Faktor“ werden. Sie müsse den Eindruck vermitteln, die Gefahr erkannt zu haben und entschieden und überlegt darauf zu reagieren. Um die Gefahr abzuwenden, so die Botschaft, müssten alle Kräfte in der Gesellschaft zusammenwirken. Dem Worst-Case-Szenario komme dabei eine Schlüsselfunktion zu:
„Um die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Wor[s]t Case keine Option. Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen.“
Die Bundesregierung müsse, so heißt es in dem Papier ebenfalls, eine „umfassende Mobilisierungskampagne starten“.
„80 Prozent der Intensivpatienten abgewiesen“
Das Worst-Case-Szenario ging davon aus, dass sich die Verdopplungszeit der Fallzahlen bis zum 14. April von drei auf dann sechs Tage erhöhen würde – und bis Ende April auf neun Tage. In diesem Fall würde der Anteil der Infizierten „schon relativ bald 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen“.
Dies würde zu einer so immensen Überlastung des Gesundheitssystems führen, dass „über 80 Prozent der intensivpflichtigen Patienten von den Krankenhäusern mangels Kapazitäten abgewiesen werden“ müssten.
Dabei sei berücksichtigt, dass zeitnah zusätzliche Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Phase der Rationierung könnte zwei Monate andauern – und auf diese würde sich die Zahl von „mehr als einer Million Todesfälle“ errechnen.
„Abgrund“ hätte BIP-Absturz um 32 Prozent zur Folge
Neben dem Worst Case wurde zudem ein „Dehnung Case“ entworfen, in dem es gelänge, bis Anfang April die Zeitspanne bis zur Verdopplung auf sechs Tage zu verlängern und bis Mitte April auf neun Tage.
In diesem Fall wären „nur etwa 20 Prozent mit dem Virus infiziert“, die Zahl der Todesfälle würde sich „auf etwa 220.000 belaufen“. Durch die zeitliche Dehnung würde allerdings auch der Ausnahmezustand „deutlich länger anhalten als im oben genannten Worst Case, im Modell sieben Monate“.
Bezüglich der Bewältigung der Krise wurden vier unterschiedliche Modelle entworfen, von „schneller Kontrolle“ über „Rückkehr der Krise“ und „langem Leiden“ bis hin zum „Abgrund“ – in dem eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus mit Ausgangsbeschränkungen bis zum Ende des Jahres kombiniert wäre. Über dieses Szenario hieß es:
„In dieser Situation würde das BIP um 32 Prozent einbrechen, die Industrie um 47 Prozent. Bei weiteren sich verstärkenden Zweitrundeneffekten und sich festsetzenden Negativerwartungen wäre eine beschleunigte Abwärtsdynamik nicht auszuschließen. Dieses Szenario kommt einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, dessen gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind.“
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