„Smart City Charta“ – Eigentum als Luxus, Wahlen überflüssig?
Homeoffice. Homeschooling. Digitaler Impfausweis. Industrie 4.0. E-Euro und digitaler Personalausweis. Immer mehr Lebensbereiche des Alltags werden digitalisiert. Wie könnte sich das weiterentwickeln? Welche Auswirkungen kann die nächste Phase der Digitalisierung haben?
Mögliche Antworten finden sich in einer Publikation des Umweltministeriums vom Mai 2017, in der „Smart City Charta“ – Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten. Damit im Zusammenhang steht die „Dialogplattform Smart Cities“. Diese wurde vom Bundesumweltministerium im Auftrag des Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung eingerichtet.
Die Aufgabe der Plattform ist es, Digitalisierung in Bezug auf nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung zu untersuchen – zeitlich gesehen bis zum Jahr 2040.
Standardmäßig digital
Einer der in der Publikation vorgestellten Impulsvorträge wurde von Roope Mokka gehalten. Roope Mokka ist Zukunftsforscher und Experte für systemischen Wandel. Er gründete gemeinsam mit Aleksi Neuvonen den ersten unabhängigen finnischen Think-Tank Demos Helsinki und ist in vielen Ländern als Redner und Berater unterwegs.
Der Think-Tank hält es für wahrscheinlich, dass schon in zehn Jahren Smartphones und das Internet verschwunden sein werden. Alles, was gebaut oder hergestellt werde, werde standardmäßig digital sein. Digitale Gebäude, digitale Autos, Fahrräder, Züge, sagt Roope Mokka. Und: „Einige von Ihnen denken jetzt vielleicht: Das ist eine schreckliche Welt. Da haben Sie absolut Recht. Wir müssen anfangen, die digitale Politik auf einer völlig neuen Ebene zu gestalten. Es kann aber auch eine wunderbare Welt sein. Wir können viele der größten sozialen und ökologischen Probleme lösen, wenn wir uns auf das Internet of NO-Things einlassen.“
Eine Zukunft ohne Entscheidungen, Privateigentum, Marktwirtschaft und Demokratie
Roope Mokka sprach von einem visionären, hypervernetzten Planeten, der entstehen könne (Zitat aus der Publikation des Umweltministeriums):
„1. Super resource-efficient society
Eine Gesellschaft, in der kein Gebäude leer steht, sondern die ganze Zeit optimal genutzt wird. Auch fahren keine Autos mehr leer. Neue Geräte und Maschinen generieren ihre eigene Energie. Für diejenigen, die an Energy Harvesting Sensoren arbeiten, erscheint die Diskussion über zentralisierte, große Kraftwerke sinnlos.
2. Post-choice society
Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl: Wir müssen uns nie entscheiden, einen bestimmten Bus oder Zug zu nehmen, sondern bekommen den schnellsten Weg von A nach B. Wir werden auch nie unsere Schlüssel, Geldbeutel oder Uhren vergessen.
3. Post-ownership society
Dank der Information über verfügbare geteilte Waren und Ressourcen macht es weniger Sinn, etwas zu besitzen: Vielleicht wird Privateigentum in der Tat ein Luxus. Daten könnten Geld als Währung ergänzen oder ersetzen.
4. Post-market society
Im Grunde genommen sind Märkte Informationssysteme, die Ressourcen zuteilen. Als Informationssystem funktioniert ein Markt jedoch sehr einfach. Er übermittelt nur, dass eine Person dies oder das gekauft hat; wir wissen aber nicht warum. Künftig können Sensoren uns bessere Daten als Märkte liefern.
5. Post-energy society
Um ubiquitär genutzt zu werden, müssen Sensoren energieeffizient und energieautark sein. Wenn eine Datenrevolution stattfinden soll, muss Energy Harvesting – die Fähigkeit, Energie auf Makro-, Mikro- oder Nanoskala zu generieren und zu speichern – Alltag werden.
6. Post-voting society
Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen.
Die Ära des „Internet of NO Things“
In seinem Vortrag verwendete Roope Mokka zudem den Begriff „Internet of NO Things“. Warum „of NO Things“?
Wenn eine Technologie sich ausreichend entwickelt habe, werde sie letztendlich verschwinden, erklärt Mokka. Sie werde nicht länger als eine Technologie wahrgenommen, sondern Teil unseres Umfeldes. Gebäude, die wir bewohnen, seien früher als Technologie betrachtet worden. Heute würden Gebäude, abgesehen von Fachleuten, von den Menschen nicht als Technik wahrgenommen. Sie seien einfach das Umfeld und der Mensch integriert.
So werde es auch mit digitalen Technologien sein, die materielle und die digitale Welt werden ineinander greifen. Digital werde materiell und Materie digital.
Roope Mokka sieht zwei Möglichkeiten, damit umzugehen, eine konservative oder eine progressive. Eine konservative Agenda würde bedeuten, das derzeitige mit Gesetzen, Vorschriften und Anreizen zu bewahren.
Eine progressive Agenda würde sich fragen, was man mit dieser neuen Technologie machen solle, wie man sie nutzen könne, wie man mit ihr die bösen Probleme unserer Zeit lösen könne, vom Klimawandel bis hin zu Lifestyle-Krankheiten und Segregation. Der Think-Tank sieht seine Arbeit in der progressiven Agenda.
Szenarien für das Jahr 2040
Roope Mokkas Beitrag wurde von der „Dialogplattform Smart Cities“ als einer von vier orientierenden Beiträgen bezeichnet. Wie die deutschen Zuhörer auf seinen Vortrag reagierten, wurde in der gedruckten Publikation nicht veröffentlicht.
„Smart City“ gilt in der Stadtentwicklung als das neue Paradigma und wird meist als die digitale Optimierung der Stadtverwaltungen angesehen. Eine „Smart City 2.0“ entwickelt digitale Dienstleistungen für Wohnungswesen, Verkehr, Nahrung, Gesundheit und Bildung.
Es sei eine neue Art der Politikgestaltung erforderlich, welche die Ziele der Stadt und ihrer Entscheider sowie Bottom-up-Initiativen zusammenbringe, so Roope Mokka. Unter Bottom-up wird verstanden, dass von Basisbewegungen und lokalen Projekten ausgehend die gesamte Gesellschaft beeinflusst wird.
Weitere orientierende Beiträge hielten Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Gunther Adler und Prof. Harald Herrmann. Prof. Schneidewind ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen und arbeitet am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH. Gunther Adler ist Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Harald Herrmann Direktor und Professor des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung.
Die „Transparente Stadt“ und die „Analogen Extremisten“
Die „Dialogplattform Smart Cities“ des Bundesumweltministeriums hatte den Zweck, eine gesellschaftspolitische Debatte zur Digitalisierung anzustoßen. Zwischen dem Juli 2016 und dem Mai 2017 fanden basierend auf den Impulsvorträgen und den Ergebnissen des Forschungsclusters „Smart Cities“ fünf aufeinander aufbauende Veranstaltungen und zwei internationale Workshops statt. Das Forschungscluster gehört zum Bundesumweltministerium sowie zum Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung.
Vier Themen standen im Fokus der Debatte: Urbane Governance, Digitale Spaltung, Lokale Ökonomie und Big Data. Die Teilnehmer entwickelten während ihrer Arbeit zu den vier Bereichen Stegreif-Szenarien als Worst-Case und Best-Case für das Jahr 2040, die in der Broschüre abgedruckt sind.
Im Worst-Case-Szenario zur Governance (Verwaltung) ist vom „Digitalisierungs-Tsunami“ und einer „Diktatur Sozialer Medien“ zu lesen. Auch „Analoge Extremisten“ gibt es – damit sind diejenigen gemeint, die sich der Digitalisierung verweigern und lieber Bäume umarmen.
Im dazugehörigen Best-Case-Szenario gibt es Stichpunkte zur „Transparenten Stadt“, „repräsentativen Demokratie“ und dazu, dass VR-Simulationen die neue potenzielle Realität erlebbar machen.
Ein Blick auf die visualisierten Szenarien zu Urbane Governance:
Die anderen Worst- und Best-Case-Szenarien sind hier zu finden: Broschüre (ab S. 46).
Die Broschüre wurde fachlich begleitet vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) Referat I 5 – Digitale Stadt, Risikovorsorge und Verkehr. Auch das Referat SW I 3 Internationale Stadtentwicklungspolitik, Urbanisierungspartnerschaften, Smart Cities im Umweltministerium war beteiligt.
2017 hieß das heute meist als Bundesumweltministerium abgekürzte Ministerium offiziell Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) und wurde von Barbara Hendricks (SPD) seit 2013 geleitet.
Svenja Schulze (SPD) übernahm das Amt am 14. März 2018, der Name lautet nun Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Der Bereich Bau wurde in das Innenministerium überführt.
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