Söder beruft Koalitionsausschuss ein: Aiwanger soll sich am Dienstag zu Flugblatt-Affäre äußern

Am Dienstag soll sich „Freie Wähler“-Chef Aiwanger zu antisemitischen Flugblättern äußern, die er als Jugendlicher in der Schultasche hatte. Ministerpräsident Söder hat dazu eine Sondersitzung des Koalitionsausschusses angesetzt.
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Soll sich am Dienstag im Koalitionsausschuss äußern: Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger.Foto: Christophe Gateau/dpa/dpa
Von 28. August 2023

Nach der Erklärung seines Stellvertreters Hubert Aiwanger in der sogenannten Flugblatt-Affäre hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder den Koalitionsausschuss einberufen. Am Dienstag, den 29. August soll sich Aiwanger im Rahmen einer Sondersitzung persönlich zu den Vorwürfen äußern. Zuvor hatte der ältere Bruder des Ministers erklärt, die rechtsextremen Flugblätter verfasst zu haben, die Aiwanger in der Schultasche mitgeführt haben soll.

Menschenverachtende „Parodie“ auf Geschichtswettbewerb

Am Freitag hatte die „Süddeutsche Zeitung“ einen Bericht über einen Sachverhalt veröffentlicht, der in das Schuljahr 1987/88 zurückreicht. Als Schüler des Burkhart-Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg (Niederbayern) soll Aiwanger sich über den Holocaust lustig gemacht haben.

In seiner Schultasche seien Flugblätter aufgetaucht, auf denen sich die Parodie eines Schülerwettbewerbs „Deutsche Geschichte“ fand. Diese war in menschenverachtendem und antisemitischem Duktus gehalten. Für die richtige Antwort auf die Frage „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ waren „Preise“ wie ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ in Aussicht gestellt.

Aiwanger räumte ein, dass sich Flugblätter dieser Art in seiner Schultasche befanden. Er bestritt jedoch, diese verfasst zu haben, und bezeichnete den Inhalt als „ekelhaft und menschenverachtend“. Sein älterer Bruder bekannte sich am Wochenende zur Urheberschaft. Er rechtfertigte die Aktion mit persönlichem Frust darüber, das Klassenziel nicht erreicht zu haben.

„Anonyme Informanten“ und Schreibmaschinengutachten

Die „Süddeutsche Zeitung“ berief sich in ihrem Bericht auf „anonyme Informanten“. Wer nach mehr als 35 Jahren immer noch im Besitz dieser Flugblätter war und aus welchem Grund, geht aus dem Beitrag nicht hervor. Aiwanger ist offenbar für deren Besitz diszipliniert worden. Er hatte als damals 17-jähriger ein Referat halten müssen, das offenbar einen Bezug zum Thema hatte.

Eine Urheberschaft konnte Hubert Aiwanger schon damals nicht nachgewiesen werden – zumindest ließ sich dies aus der Aussage eines Lehrers schließen, der damals dem Disziplinarausschuss angehört hatte. Das Blatt hat zudem ein Gutachten eines Schriftsachverständigen in Auftrag gegeben. Diesem zufolge sei das Flugblatt auf derselben Schreibmaschine wie Aiwangers Facharbeit verfasst worden. Zugang zu dieser könnte jedoch auch dessen Bruder gehabt haben.

In sozialen Medien verglichen Nutzer dieses Vorgehen mit Methoden der DDR-Staatssicherheit. Einen solchen Vergleich zog auch der Bruder von Hubert Aiwanger selbst, der gegenüber der „Mediengruppe Bayern“ erneut von einer „Jugendsünde“ sprach, für die er sich schäme.

Medienanwalt Joachim Steinhöfel wirft der „Süddeutschen Zeitung“ einen Verstoß gegen den Pressekodex vor. Man habe einen Verdacht gegen Aiwanger vor der Bezahlschranke geäußert – dessen Dementi jedoch zumindest anfänglich hinter dieselbe verschoben.

Bereits jetzt geht Aiwanger gegen Darstellungen vor, wonach er „als Schüler für eine rechtsextreme Gesinnung bekannt“ gewesen wäre. Dies und dass Aiwanger damit geprahlt habe, „vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert“ zu haben, behauptete das Blatt ebenfalls. Quelle waren wiederum „anonyme Informanten“.

Antisemitismusbeauftragter hält Aiwanger im Amt für möglicherweise „untragbar“

Aus den Reihen der Grünen und der FDP ertönt bereits der Ruf nach Konsequenzen in Form einer Entlassung Aiwangers. Der bayerische SPD-Fraktionsvorsitzende Florian von Brunn fordert zudem eine Sondersitzung des Landtags. Gegenüber „Bild“ äußerte er:

Wer die Konzentrationslager von Auschwitz und Dachau als Vergnügungsviertel bezeichnet, darf in unserem Land keine Verantwortung tragen.“

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat sich ebenfalls geäußert. Er hält Aiwanger für „als stellvertretender Ministerpräsident von Bayern und anderer Ämter untragbar“, sollten sich die Vorwürfe bestätigen. Gegenüber der gleichen Zeitung erklärte er:

Derartige menschenverachtende Äußerungen über Opfer des Holocaust dürfen von niemandem – auch nicht Jugendlichen – geäußert werden. Dies muss Konsens aller demokratischen Parteien sein.“

Wolffsohn: „Keine antifaschistischen Helden, sondern Denunzianten“

In Schutz nimmt Aiwanger hingegen der Historiker und Enkel von Holocaust-Überlebenden, Michael Wolffsohn. Er schreibt in einem „Bild“-Kommentar:

Wir haben es bei den Zeugen nicht mit antifaschistischen Helden, sondern eher mit Denunzianten zu tun.“

Als Jude wehre er sich dagegen, von solchen „für ihre tagespolitischen Zwecke missbraucht“ zu werden. Wolffsohn wittert hinter der Flugblatt-Affäre den Versuch, eine konservative Partei wie die „Freien Wähler“ (FW) in die Nähe des Nazismus und Antisemitismus zu rücken. Im Fall linker Politiker fände Fehlverhalten aus Jugendzeiten deutlich mehr Nachsicht.

Ministerpräsident Söder und die CSU wollen die Sache dennoch nicht auf sich beruhen lassen. Söder erklärte in Augsburg, das Flugblatt sei „menschenverachtend und geradezu eklig“. Die Vorwürfe müssten jetzt „ausgeräumt werden, und zwar vollständig“. Staatskanzleichef Florian Herrmann äußerte, man habe Aiwangers Erklärung zwar „zur Kenntnis genommen“. Eine persönliche Rechtfertigung sei jedoch unumgänglich:

Die Vorwürfe sind zu ernst, als dass sich ein stellvertretender Ministerpräsident nur schriftlich äußert und entscheidende Fragen unbeantwortet lässt.“

Spekulationen über Urheberschaft der Enthüllungen

Offen bleibt, wer gerade zum jetzigen Zeitpunkt die mehr als 35 Jahre zurückreichende Begebenheit aus einer Zeit aufbringen wollte, in der beide Aiwanger-Brüder noch minderjährig waren. Immerhin sind Aiwanger und die FW bereits seit 2008 durchgehend im bayerischen Landtag vertreten. Mit antisemitischen Aussagen ist deren Chef seither nicht aufgefallen.

In der Vergangenheit stand häufig die CSU selbst im Verdacht, notfalls auch unsaubere Mittel nicht zu scheuen, um die politische Konkurrenz zu vernichten. So war in den 1960er-Jahren ein Meineid des damaligen CSU-Generalsekretärs Friedrich Zimmermann im Spiel, als es um die sogenannte Spielbankenaffäre ging. Diese stürzte die einst im Freistaat bedeutende Bayernpartei in die Bedeutungslosigkeit – und ebnete der CSU den Weg zu Jahrzehnten einer absoluten Mehrheit.

Soll ein Aus für Aiwanger Schwarz-Grün erzwingen?

Ein solches Szenario – die „Freien Wähler“ zu sabotieren, um eine Chance auf eine absolute Mehrheit zu erlangen – erscheint mit Blick auf Umfragen jedoch als illusorisch. Von einer Schwächung des konservativen Koalitionspartners könnte anstelle der CSU selbst auch die AfD profitieren. Die CSU hatte sich zudem in den vergangenen Monaten klar zur Fortsetzung der seit 2018 bestehenden Koalition mit den FW ausgesprochen.

Bis dato deutete alles darauf hin, dass diese Mehrheit bei der Wahl im Oktober wieder zustande kommt. Verluste der FW infolge der Affäre würden jedoch ein Bündnis mit den Grünen wahrscheinlicher machen – das Söder zuletzt kategorisch ausgeschlossen hatte.

Auf der Linken ist Aiwanger insbesondere seit seiner Rede auf der Protestveranstaltung gegen das geplante Heizungsgesetz in Erding zum Feindbild geworden. Der FW-Chef hatte damals die versammelten Bürger dazu aufgerufen, sich „die Demokratie zurückzuholen“. Dies hatte ihn in den einschlägigen Kreisen endgültig zum „Rechtspopulisten“ gestempelt.



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