„Temporäre Radwege“: Nutzt der Berliner Senat die Corona-Pandemie für strittige Änderungen?

Der Berliner Senat hat unter dem Begriff „temporäre Radwege“ ganze Fahrspuren zu Radwegen umfunktioniert, die größtenteils gar nicht temporär, sondern dauerhaft Radweg bleiben sollen. Politiker und Verbände werfen dem Berliner Senat vor, die derzeitige Lage zu nutzen, um fragwürdige verkehrs- und baugenehmigungstechnische Änderungen umzusetzen.
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Das Rote Rathaus in Berlin – Sitz des regierenden Bürgermeisters.Foto: iStock
Von 29. April 2020

In den „temporären Radwegen“ von Berlin sehen Verbände und Abgeordnete aus dem Berliner Landesparlament eine Mogelpackung. Auf Nachfrage gesteht der Senat ein, dass die betreffenden Abschnitte größtenteils dauerhaft – auch in der jetzigen Breite – Fahrradwege bleiben.

Hintergrund für das Stilllegen ganzer Fahrspuren für den Autoverkehr soll ein verbesserter Infektionsschutz für die Fahrradfahrer sein. „Positive Aspekte der Verkehrssicherheit im Straßenverkehr lassen sich so mit einer Unterstützung der geltenden Infektionsschutzauflagen verbinden“, heißt es dazu in der Pressemitteilung des Senats.

In Berlin wurden aufgrund der Corona-Pandemie ganze Fahrspuren zu Radwegen umfunktioniert. Foto: ADAC Berlin-Brandenburg e.V.

Senatsverwaltung: „Umsetzung wird in der Pandemie-Situation nun mit provisorischen Mitteln vorgezogen“

Als Vorlage für die neu eingerichteten Radweg-Abschnitte diente einerseits das Berliner Mobilitätsgesetz, das vorsieht, dass an allen Hauptverkehrsstraßen breite, sichere Radwege entstehen sollen.

Dabei soll für viele der jetzt eingerichteten Fahrradweg-Abschnitte, bereits eine konkrete Planung zur Umsetzung bestanden haben. „Die Umsetzung wird in der Pandemie-Situation nun mit provisorischen Mitteln vorgezogen“, so ein Sprecher der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.

In dem Berliner Mobilitätsgesetz (§43 Abs. 1 MobG BE) heißt es dazu: „Auf oder an allen Hauptverkehrsstraßen sollen Radverkehrsanlagen mit erschütterungsarmem, gut befahrbarem Belag in sicherem Abstand zu parkenden Kraftfahrzeugen und ausreichender Breite eingerichtet werden. Diese sollen so gestaltet werden, dass sich Radfahrende sicher überholen können.“ Der Verkehrssenat hält dabei „die Breite einer Fahrspur (inklusive Sicherheitsstreifen)“ dafür „üblicherweise“ für „ausreichend“.

Berliner Senatssprecher: „Die Fläche des Straßenlands wird so neu verteilt“

Neben den bereits vorher geplanten Abschnitten sind allerdings noch sogenannte „Pop-Up-Bikelanes“ hinzugekommen. Rechtliche Grundlage hierfür sei eine straßenverkehrsbehördliche Anordnung (gem. § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 3 StVO) die „aus Pandemiegründen beschleunigt und mit provisorischen Mitteln vorgezogen wurde. Damit soll das Distanzgebot gewahrt und Ansteckungsgefahren minimiert werden“, führt ein Sprecher der Senatsverwaltung aus. Und ergänzt: „Die Fläche des Straßenlands wird so neu verteilt, aber keiner unverhältnismäßig beeinträchtigt“.

Er weist darauf hin, dass die „konkrete dauerhafte Anordnung der Radfahrstreifen von der temporären Lösung noch abweichen“ kann. „Kaum allerdings in der Breite, sondern eher in Fragen der Markierung oder der Protektion (Schutz)“, heißt es weiter.

In Berlin wurden aufgrund der Corona-Pandemie ganze Fahrspuren zu Radwegen umfunktioniert. Foto: ADAC Berlin-Brandenburg e.V.

Regine Günther, Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz in Berlin erklärt dazu:

In der Corona-Krise kommt es darauf an, die Mobilität in der Stadt bestmöglich zu verteilen, damit das Abstandsgebot eingehalten werden kann. Daher ziehen wir jetzt längst geplante Verbesserungen der Radinfrastruktur an den Straßen vor, die dafür geeignet sind, damit die Berlinerinnen und Berlin sicher mobil sein können. Radfahren braucht Platz, ganz besonders in der Pandemiesituation, wenn der Abstand zu anderen Leben rettet. Unser Ziel ist es, aus den vorgezogenen Maßnahmen möglichst überall dauerhafte Anordnungen zu machen. Ohnehin geplante Lösungen sollten möglichst schnell vom Provisorium zum Dauerzustand werden. Insofern ist dieses Handeln nicht nur sachgerecht, sondern geboten.“

AfD-Politiker: „Geltendes Recht wird komplett ausgehebelt, um dauerhafte Fakten zu schaffen“

Ganz anders sieht dies Frank Scholtysek, verkehrspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Für ihn wird hier unter dem Vorwand der „Gesundheitsvorsorge und des Schutzes von Leib und Leben“ (ursprüngliches Zitat von Innensenator Geisel SPD), bisher geltendes Recht komplett ausgehebelt, um „dauerhafte Fakten zu schaffen“.

Diese sogenannten „Pop-up-Radwege“, würden innerhalb kürzester Zeit aus dem Nichts auf die Straßen gepinselt, so der AfD-Politiker. Was dabei fehle sei jegliche öffentliche Beteiligung, wie sie normalerweise nach BauGB §3 ff. zwingend erforderlich sei. Auch vermisst er eine gesetzliche Grundlage für diese Vorgehensweise, auch wenn sich Berlin auf das Berliner Mobilitätsgesetz berufe.

Abgesehen davon, fehlt ihm auch eine entsprechende Verhältnismäßigkeit bei dieser Maßnahme. In diesem Zusammenhang verweist der Verkehrspolitiker auf den Bund und seinen Referentenentwurf für das sogenannte „Planungssicherstellungsgesetz“, der kürzlich dazu verabschiedet wurde.

In ihm sieht Scholtysek das jetzige Problem mit den Maßnahmen des Verkehrssenates bestätigt. Es besagt, dass mit Eintritt der Corona-Pandemie die Planungen nicht mehr in der früheren Form durchgeführt werden können, und somit nicht mehr den gesetzliche Vorgaben entsprochen wird.

Gesetzes-Entwurf : „Öffentlichkeitsbeteiligung soll digitalisiert werden“

In dem Entwurf heißt es:

Das Coronavirus hat die Planung und Genehmigung von Infrastrukturprojekten zum Stillstand gebracht. Das Veranstaltungsverbot und die Schließung von Verwaltungsgebäuden für den Publikumsverkehr führten dazu, dass Antragsunterlagen nicht mehr öffentlich ausgelegt, Erörterungstermine abgesetzt und die gesetzlich vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung unmöglich wurden. Verschärft wird die Situation freilich dadurch, dass in den ohnehin unterbesetzten Behörden kaum noch Personal zur Verfügung steht.“

Der Plenarsaal des Berliner Stadtparlaments steht leer, nachdem eine Plenarsitzung wegen ARS-CoV-2 am 19. März in Berlin abgesagt wurde. In einer Erklärung bestätigte das Parlament, dass die Absage auf einen positiven Coronavirus-Infektionstest des israelischen Botschafters in Deutschland, Jeremy Issacharow, zurückzuführen ist, der kürzlich an einer Veranstaltung im Parlamentsgebäude teilgenommen hat. Foto: Sean Gallup/Getty Images

Länder, Unternehmen und Verbände drängten darauf, dass die Bundespolitik reagiert. Dadurch entstand Ende April ein „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Planungs- und Genehmigungsverfahren während der COVID-19-Pandemie“, erklärt der Berliner Politiker.

Diesen, so der Wunsch des AfD-Politikers, sollte der Bundestag – mit Zustimmung des Bundesrates – alsbald beschließen. Ziel des „Planungssicherstellungsgesetz“ ist, die Öffentlichkeitsbeteiligung zu digitalisieren und damit aufrechtzuerhalten, um die Verfahren zum Abschluss bringen zu können.

Er sieht darin die Bestätigung, dass für die jetzt eingerichteten „temporären Radwege“ die rechtliche Grundlage fehlt. Seine Fraktion, würde daher derzeit „sehr intensiv prüfen“, ob eine Klage gegen sämtliche auf diese Weise entstandenen Radwege eingereicht werde.

Sperrungen des Autoverkehrs, damit die Kinder wieder raus und spielen können

Er zeigt sich besorgt, dass es dabei allein nicht bleibt. „Schon werden ja Sperrungen ganzer Kieze für den Autoverkehr zur Einrichtung temporärer Spielstraßen gefordert, damit die Kinder wieder raus und spielen können“. Für ihn ist dabei nicht logisch nachvollziehbar, dass man einerseits die Spielplätze geschlossen halte, jedoch andererseits nun Straßen zu Spielplätzen umwandeln wolle.

Einerseits werden durch den Berliner Senat Spielplätze abgesperrt, andererseits gibt es Überlegungen Straßen zu Spielplätzen umzuwandeln. Foto: iStock

In die gleiche Kategorie falle für ihn auch die neuste Forderung des Berliner Fahrgastverband nach sogenannten „Pop-up-Busspuren“, damit die Fahrgäste in den öffentlichen Bussen zukünftig nur so lange, wie absolut nötig, in den Bussen unterwegs sein müssen.

Mit seiner Kritik steht der Landespolitiker nicht allein. Auch der ADAC Berlin-Brandenburg vermutet einseitige politische Motive.

Der Senat nutzt eine Notsituation aus, um Partikularinteressen zu verfolgen. Das ist alles andere als sachgerecht“, sagt Volker Krane, Verkehrsvorstand des ADAC Berlin-Brandenburg e.V.

Er ist der Ansicht, dass der temporäre Rückgang des Pkw- und des Radverkehrs nicht dazu genutzt werden dürfe, dauerhafte Umverteilungen des Verkehrsraumes durchzusetzen. Denn das würde „außerhalb der aktuellen Sondersituation kaum Aussicht auf öffentliche Akzeptanz haben“.

In Berlin wurden aufgrund der Corona-Pandemie ganze Fahrspuren zu Radwegen umfunktioniert. Foto: ADAC Berlin-Brandenburg e.V.

ADAC erwartet Bekenntnis der Politik, dass diese Radwege zurückgebaut werden

Vielmehr sei dem ADAC Berlin-Brandenburg zufolge davon auszugehen, dass der Kfz-Verkehr mit den ersten Lockerungen der Maßnahmen nach und nach wieder auf sein früheres Maß ansteigen wird. Damit würden dann auch die Kapazitätsengpässe auf der Straße wiederkehren.

Wir erwarten deshalb ein klares Bekenntnis der Politik, dass diese Radwege zurückgebaut werden, sobald der Pkw-Verkehr wieder zunimmt“, fordert der Verkehrsvorstand.

Die „temporären Radwege“ befinden sich aktuell in Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin-Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow. Auf rund 10 Kilometer (9980 m) wurden sie größtenteils beidseitig eingerichtet. Weitere gut drei Kilometer (3260 m) sind in Arbeit und weitere neun Kilometer stehen bereits fest. Allerdings werden noch mehr Strecken folgen: zum Beispiel in Mitte, Pankow und Tempelhof-Schöneberg mit unterschiedlichen Längen. Sie alle sind in Vorbereitung, erklärt die Senatsverwaltung.

Berliner Senat strebt Änderung der Fristen für Baugenehmigungen ein

Doch nicht nur im Bereich der Verkehrspolitik macht sich Unmut breit, auch im Bereich Bau- und Wohnpolitik gibt es Kritik seitens der Opposition.

Auch hier begründet der Senat eine Änderung mit der Corona-Pandemie, und zwar der Berliner Bauordnung. Ein Beschluss ist dazu verabschiedet worden, der noch das Landesparlament passieren muss, bevor er in Kraft tritt. Die Gesetzesänderung soll künftig die Senatsverwaltung ermächtigen, im Falle „besonderer Ereignisse“ die Fristen „abweichend von denen der Bauordnung zu regeln“.

Das hat Auswirkungen auf die Bearbeitung von Anträgen auf Baugenehmigung im Rahmen eines gültigen Bebauungsplanes. Bisher musste sich das Bauamt innerhalb bestimmter Fristen beim Bauherren rückmelden, sonst galten die Bauanträge als erteilt. Das müsste der Senat nach dem neuen Gesetz dann nicht mehr tun, sagen Kritiker. Entsprechend der Senatsverwaltung würden sich die Fristen damit verdoppeln.

Kritiker sehen darin eine Benachteiligung der Bauherren, die damit der Willkür der Verwaltung ausgeliefert wären. Auch bestünde die Gefahr, dass viele Firmen allzu lange Wartezeiten nicht überstehen und pleite gehen würden.

Arbeiter auf der Baustelle eines neuen Wohnkomplexes am 4. April 2018 in Berlin. Foto: Sean Gallup/Getty Images

FDP-Politiker kritisiert die „investorenfeindliche Haltung“ der Senatsverwaltung

Dies sieht auch der Sprecher für Bauen und Wohnen der Berliner FDP-Fraktion, Stefan Förster so. „Die FDP-Fraktion kritisiert daher die investorenfeindliche Haltung der Verwaltung deutlich und wird die Novelle der Bauordnung ablehnen“, erklärt der Landespolitiker gegenüber Epoch Times. Auch in diesen Zeiten müsse es möglich sein, gesetzeskonform und nach den bisherigen Regelungen zu arbeiten, so Förster.

Dem FDP-Politiker kommt es merkwürdig vor, dass während der Corona-Pandemie solch eine auf den ersten Blick kleine Änderung, die jedoch erhebliche Auswirkungen haben kann, eingebracht wird. Sie könnte zu starken Verzögerungen bei den Baugenehmigungen führen. Für ihn ist auch fraglich, wo da der Zusammenhang zur Corona-Pandemie bestehen soll, da die Bearbeitung der Baugenehmigungen in Einzel-Büros erfolgen würde.

Auf Anfrage der Epoch Times erklärte die zuständige Senatsverwaltung, dass zwar die Möglichkeit, im Falle einer Pandemie unter anderem die Fristen zu ändern, entsprechend der Gesetzesänderung zukünftig dauerhaft bestehen bleiben soll. Die jeweilige Änderung/Verlängerung der Frist selbst sei allerdings befristet, „im aktuellen Fall bis September 2020“.

Berliner Senat: Corona-Pandemie schränkt Dienstbetrieb der Bauaufsichtsbehörden ein

Begründet wird die Gesetzesänderung durch den Senat mit dem Umstand, dass „durch die derzeitige Corona-Pandemie der Dienstbetrieb der Bauaufsichtsbehörden, sowie der zu beteiligenden Stellen, erheblich eingeschränkt ist und dadurch die Beteiligungs- und Bearbeitungsfristen in den Genehmigungsverfahren nicht immer eingehalten werden können“.

Damit bestünde die Gefahr, dass sich zum Beispiel aufgrund von Fristablauf erteilte Bauerlaubnisse im Nachhinein als rechtswidrig erweisen könnten, erklärt der Senat in einer Pressemitteilung.

Ein Bagger steht auf einer Baustelle in der Nähe des Alexanderplatzes im Stadtzentrum. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Die Änderung der Bauordnung ist noch nicht beschlossen. Heute findet (29. April) die erste Lesung dazu im Berliner Abgeordnetenhaus statt.

Beschließen muss die Änderung dann das rot-rot-grün dominierte Berliner Landesparlament. Ziel sei es, so die Senatsverwaltung, mithilfe der Gesetzesänderungen die Fristen in den verschiedenen Baugenehmigungsverfahren von zwei, drei oder vier Wochen für die Dauer der Pandemie jeweils zu verdoppeln.

Wodurch und in welcher Form konkret während der Corona-Pandemie der „Dienstbetrieb der Bauaufsichtsbehörden, sowie der zu beteiligenden Stellen, erheblich eingeschränkt ist“, konnte die Senatsverwaltung auf Anfrage nicht erklären.



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