Thesenpapier von Schrappe-Team wirft DIVI Manipulation bei Intensivbettenauslastung vor

Das Thesenpapier eines Forscherteams um den ehemaligen Berater der Bundesregierung, Prof. Schrappe, erhebt schwere Vorwürfe gegen die DIVI. Ärzte und Krankenhäuser sind empört – Verbände weisen die Vorwürfe „aufs Schärfste zurück“.
Von 19. Mai 2021

„Liebe Entscheidungsträger, wie hoch sollen die Zahlen denn noch steigen, bevor Ihr reagieren wollt???“, schrieb der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters von DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin), Christian Karagiannidis, am 7. April auf Twitter.

Experten schlugen Alarm, die Belastung für die Intensivstationen in Deutschland wächst in der Pandemie wieder stark an, einige Krankenhäuser würden nur noch im Notbetrieb funktionieren.

Doch ein Forscherteam um den Ökonomen Prof. Dr. med. Matthias Schrappe wirft nun dem DIVI und Kliniken Manipulation der Statistiken vor: Die Zahlen und die Belegung der Intensivbetten seien „systematisch“ verringert worden und die Angst vor einer Triage-Situation unbegründet gewesen, schreiben sie in ihrem Thesenpapier, das am Sonntag (16. Mai) veröffentlicht wurde.

Das Bundesgesundheitsministerium dementiert die Vorwürfe. Die Thesen Schrappes seien „zum großen Teil nicht durch Fakten unterlegt, sondern basieren auf Annahmen und Unterstellungen“, hieß es vom Ministerium.

Twitter hat mittlerweile den Hashtag #DiviGate von seinem Trend verschwinden lassen, obwohl zahlreiche Meldungen zu diesem Thema erschienen sind – die heftige Debatte wird nun unter dem neuen Hashtag #DiviGateGate weitergeführt.

Die Fronten sind geteilt: Während einige Twitter-User dem Forscherteam „Wahnvorstellungen“ diagnostizieren und das Papier für das Pflegepersonal ein „Schlag ins Gesicht“ nennen, begrüßen andere die kritische Betrachtung der Zahlen. 

Von Bedeutung ist die Zahl der Belegung deswegen, weil die Bundesregierung die Überlastung der Intensivstationen in der Pandemie zu vermeiden versucht.

Es ist sogar ihr höchstes Ziel beim Umgang mit SARS-CoV-2 und daher entscheidend für die Maßnahmen, die ergriffen werden. Die Forscher schreiben, dass im Jahr 2020 allerdings nur vier Prozent der intensivmedizinischen Kapazitäten zur Behandlung von COVID-19-Patienten genutzt wurde.

Sie bemängeln die Datenlage „über demographische und klinische Charakteristika zum Zeitpunkt der Intensivpflichtigkeit“, was eine genaue Analyse schwierig macht.

Corona-Patienten machen nur ein Viertel aller Intensivpatienten aus

In dem Thesenpapier der Forscher steht: „Was die Belegung der Intensivstationen betrifft, fällt weiterhin auf, dass die Corona-Patienten maximal ein Viertel aller Intensivpatienten ausmachen. Die Behauptung, alleine die Covid-19-Patienten würden für die Überlastung der Intensivstationen verantwortlich sein, erscheint vor diesem Hintergrund nur bedingt glaubwürdig.“ 

In einem Interview mit der „Welt“ sagte Prof. Schrappe deutlicher: „Es steht weiter fest, dass das vielen Entscheidern während des gesamten Pandemieverlaufs bewusst gewesen sein muss“. Dennoch wurde die Schaffung weiterer Intensivkapazitäten beauftragt.

„Nach unseren Recherchen scheinen diese Betten aber nicht existent zu sein. Sie sind offensichtlich niemals geschaffen worden oder wurden beantragt, obwohl es keine Pflegekräfte dafür gab“, so der Professor.

Laut Recherche der Experten gebe es sogar eine Überkapazität in der stationären Versorgung. „Während in der EU durchschnittlich 3,6 Betten pro 1.000 Einwohner belegt sind, liegt dieser Durchschnitt mit 6,4 Betten in Deutschland deutlich höher“, so das Papier.

41 Prozent der Corona-Patienten auf Intensivstationen

Im europäischen Vergleich fällt den Forschern weiter auf, dass in Deutschland der Anteil der intensivpflichtigen Corona-Patienten „an allen hospitalisierten Corona-Patienten insgesamt deutlich höher ist als in anderen europäischen Ländern“. 

Während in Deutschland 41 Prozent der eingelieferten Corona-Patienten auf Intensivstationen behandelt werden, werden in der Schweiz 25, in Italien nur 11 Prozent verlegt. „Offensichtlich stellt man in Deutschland die Indikation zur Intensivbehandlung von CoViD-19-Patienten deutlich schneller als in anderen Ländern“, schlussfolgern die Forscher.

Könnte der Grund für die Verlegung der Patienten Geld sein? „Erkranken Bundesbürger schwerer als die übrigen Men­schen in Europa? Oder könnte es sein, dass manche Krankenhäuser sich in Erlösmaximierung versu­chen?“, sagte Schrappe in der „Welt“.

Fakt ist: Es wurden als Ausgleichszahlungen an die Krankenhäuser 10,2 Milliarden Euro und als Prämien für knapp 11.000 zusätzliche Intensiv-Betten 530 Millionen Euro ausgezahlt. „Der starke Vorwurf, dass Menschen auf Intensivstationen aufgenommen worden sind, die es nicht soll­ten, ist nicht belegt“, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. 

Verbände weisen Vorwürfe „aufs Schärfste zurück“

Auch die Verbände weisen die Vorwürfe zurück: „Die Divi, der Marburger Bund Bundeverband und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weisen deshalb die irreführenden Vorwürfe vom Spiel mit der Angst, der Manipulationen offizieller Statistiken und sogar die Unterstellung, rein aus finanziellem Interesse Patienten intensivmedizinisch zu behandeln, aufs Schärfste zurück.“

Intensivpfleger Ricardo Lange, bekannt von einer Pressekonferenz Ende April, reagierte auf Twitter empört auf die Vorwürfe: „In der Welt musste ich heute lesen, dass vermutlich Covid-19-Patienten auf der Intensivstation lagen, die dort nicht hätten liegen müssen. Ich weiß nicht viel über Statistiken, aber sehr wohl, wann ein Patient intensivpflichtig ist. Bei uns lag niemand, der es nicht müsste!“

Für das Forscherteam um Schrappe herum sei aus den Daten auch nicht ersichtlich, ob die Corona-Infektion für die Aufnahme auf die Intensivstation in diesen Fällen der Grund gewesen ist oder andere Grunderkrankungen die Verlegung veranlasst haben. Daher wäre es für die Forscher an dieser Stelle wichtig die Benennung – ähnlich wie bei den Todesfällen – umzuschreiben: „Intensivpflichtigkeit mit oder wegen Corona“.

Fehlende Pflegekräfte erklären fehlende Intensivbetten?

Nach Angaben der Verbände gäbe es mehrere Gründe für den Rückgang der Intensivbettenzahl. „Bereits Anfang August kam es im Divi-Intensivregister zu einem Rückgang der Intensivbettenzahl.“

Dieser sei auf eine Änderung bei der Abfrage der intensivmedizinischen Kapazitäten sowie dem Einsetzen der Pflegepersonaluntergrenzen zurückzuführen. In der Konsequenz hätten zahlreiche Kliniken ihre Bettenmeldungen an diese Personalvorgaben angepasst.

„Außerdem werden seitdem die Notfallreservekapazitäten separat abgefragt. Die Angaben zur Anzahl der freien betreibbaren Bettenkapazitäten haben sich in den folgenden Meldungen entsprechend reduziert“, heißt es weiter in der Mitteilung.

Medienberichten zufolge ging die Zahl der Beschäftigten in der Pflege zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 um mehr als 9.000 zurück. Diese berufen sich auf bislang unveröffentlichte Zahlen der Bundesagentur für Arbeit.

„Doch sind diese Zahlen wenig aussagekräftig, da darunter ebenso Altenpfleger wie auch Pflegekräfte aus Krankenhäusern subsumiert sind, denen der Mangel an Patienten und abgesagten Operationen während der Pandemie finanziell stark zu schaffen machte“, schreiben die Forscher. Inwieweit darunter Intensiv-Pflegekräfte waren, sei nicht ermittelt worden. 

Eine Rückgewinnung von Pflegekräften aus dem Ruhestand oder eine Wiederaufnahme der Berufstätigkeit haben nicht stattgefunden, sagen die Forscher, „obwohl solche Programme eigentlich die naheliegenste Maßnahme gewesen wäre“. 

Aktuelle Daten der Bundesagentur für Arbeit sprechen sogar für eine deutliche Zunahme der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Bereich.

Der Grünen-Abgeordnete Janosch Dahmen widerlegt die Zahlen der Forscher: „Es geht um Pflegekräfte auf Intensivstationen, nicht allgemein. DIVI zeigt, dass die Anzahl von Intensivstationen, die wegen Personalausfall ausfielen, mit den Wellen der Pandemie anstieg“.



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