Warum EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus die Ämter aufgeben musste
Der überraschende Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus von allen ihren Kirchenämtern war ein Paukenschlag. Zuvor war ihr vorgeworfen worden, dass sie als frühere Gemeindepfarrerin in Siegen einen Fall sexuell übergriffigen Verhaltens vertuscht habe.
Zuerst hatte die „Siegener Zeitung“ über diesen Sachverhalt berichtet. Kurschus soll demnach schon Ende der 1990er-Jahre über Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens gegen einen Kirchenmitarbeiter informiert gewesen sein. Die Zeitung hatte die Aussage zweier Männer zitiert, die Kurschus damals „im Detail über die Missbrauchsvorwürfe informiert haben wollen“. Beide bekräftigten ihre Aussagen demnach mit eidesstattlichen Versicherungen.
Im Moment ermittelt die Siegener Staatsanwaltschaft in mehreren Verdachtsfällen auf mögliche sexualisierte Gewalt gegen männliche Personen gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter im südwestfälischen Kirchenkreis Siegen Wittgenstein. Ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist im Moment noch nicht gänzlich geklärt und Gegenstand der staatsanwaltlichen Ermittlungen.
Mit dem Beschuldigten „lange befreundet“
Seit 1993 war Annette Kurschus Pfarrerin in diesem Kirchenkreis und leitete diesen ab 2005 auch als Superintendentin. Am Montag stellte sie allerdings klar, dass sie zu dem heute Beschuldigten „nie in einem Dienstverhältnis“ gestanden habe, „auch nicht zu meiner Zeit als Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis“. Kurschus sagte aber am Montag, dass sie mit der Familie den damals heterosexuell verheiraten Mannes „lange befreundet“ gewesen sei.
Die zwei Männer, die nun zurückgetretene EKD-Vorsitzende belasten, geben an, schon Ende der 1990er-Jahre die damalige Pfarrerin Kurschus bei einem Gespräch im Garten auf den Verdacht des sexuellen Missbrauchs gegen den Mitarbeiter hingewiesen zu haben. Diese Aussage haben sie auch eidesstattlich versichert. Ob so ein Verhalten tatsächlich vorgelegen hat, das ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft im Moment offen. Sie schließen allerdings aus, dass es seitens des Beschuldigten zu körperlicher Gewalt gekommen ist.
„Uns ist zumindest nichts [sic] bekannt geworden, dass mit körperlicher Gewalt, Drohungen oder mit Androhung von Schlägen oder sonstigem irgendwelche Leute gefügig gemacht worden sein sollen“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Siegen in der vergangenen Woche dem „Evangelischen Pressedienst“. Wie das katholische „Domradio“ aus Köln weiter berichtet, sehe es nach dem jetzigen Kenntnisstand danach aus, dass der Beschuldigte seine Stellung ausgenutzt habe, um erwachsene junge Männer „irgendwie zu verführen, dass sie mit ihm homosexuelle Handlungen vornehmen“.
Taten nach jetzigem Stand verjährt
Nach den bisherigen Ermittlungen werde davon ausgegangen, dass die mutmaßlichen Geschädigten zum Zeitpunkt der Vorfälle volljährig gewesen seien. Hier stelle sich allenfalls die Frage, ob es sich um einen Missbrauch von Schutzbefohlenen handeln könnte oder ob es strafrechtlich nicht zu erfassen sei, weil ein Erwachsener auch Nein sagen könne. Das werde noch geprüft.
Alle Taten, die bislang bekannt geworden seien, liegen nach Angaben des Sprechers der Siegener Staatsanwaltschaft „sicherlich schon 20 Jahre zurück“. Die Staatsanwaltschaft geht daher im Moment von der Verjährung aus. „Wenn nichts weiter dazukommt, mag das moralisch eine gewisse Sache sein, aber letztlich strafrechtlich nicht zu fassen“, so der Sprecher.
Die „Siegener Zeitung“ hatte in ihrem Bericht auch davon gesprochen, dass es neben den Vorfällen aus den 90er-Jahren auch jüngere Fälle gebe. Die Staatsanwaltschaft sagte aber, dass sich das derzeit ihrer Kenntnis entziehe. Sollte sich herausstellen, dass auch Kinder oder Jugendliche zu sexuellen Handlungen bewogen worden seien, müsse der Fall natürlich anders bewertet werden. „Aber bislang haben wir diesbezüglich keine Erkenntnisse“, betonte der Sprecher.
EKD-Leitungsgremien nicht zeitnah informiert
Innerkirchlich unter Druck geraten war EKD-Ratsvorsitzende Kurschus vor allem deshalb, weil sie in der vergangenen Woche auf der EKD-Synode in Ulm bei der Eröffnungspressekonferenz lediglich davon gesprochen hatte, dass sie den Mann aus ihrer Siegener Zeit kenne. Erst zwei Tage später gab sie die persönliche Freundschaft zu.
Wie die „Welt“ berichtet, habe man in der EKD intern kritisiert, dass Kurschus die Leitungsgremien nicht schon vor Monaten über den Fall und ihre sehr gute Bekanntschaft zum Beschuldigten informiert habe. Sie habe sich lediglich mit sehr wenig Vertrauten über diese Sache ausgetauscht. Die EKD kritisierte daher intern die Kommunikation ihrer Präsidentin und die mangelnde Transparenz.
Das Verhalten Kurschus hat die EKD in eine schwierige Situation gebracht. Die Evangelische Kirche hat sich nach jahrelanger Diskussion um den Umgang mit Missbrauchsbetroffenen auf die Fahne geschrieben, dass alle Vorfälle transparent und in steter Achtung vor den mutmaßlich Betroffenen aufgearbeitet werden sollen. Diese Grundsätze ließ, so der Vorwurf in den Reihen der EKD, die Präsidentin vermissen.
Rücktritt schützt vor weiteren Belastungen – Widerspruch in der Darstellung bleibt
Die EKD veröffentlichte nach dem Rücktritt Kurschus eine Pressemitteilung von Sprechern von Betroffenen im kirchlichen Raum. Der Rücktritt wurde dort begrüßt. „Ihre Entscheidung, auf die Ämter zu verzichten, schützt unsere Arbeit vor weiteren Belastungen“, heißt es in der Erklärung. Der Rücktritt könne zudem „den weiteren Prozess der Aufklärung, auch bezüglich der Vorwürfe gegen ihre Person, unterstützen“, heißt es weiter. „Es existiert nach wie vor ein Widerspruch der Darstellungen zu diesem Aspekt des Falles, der durch unabhängige Fachleute untersucht werden muss.“
Sauer aufgestoßen sein dürfte dem Sprecher der Betroffenen, dass Kurschus auch in ihrer Erklärung am Montag nicht auf das Gartengespräch eingegangen ist. Sie erklärte lediglich, dass damals – wann und wo auch immer – durchaus über das sexuelle Verhalten des Mannes gesprochen wurde. Kurschus betonte aber am Montag: „Ich habe allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.“
Kurschus lies aber in ihrer Erklärung auch Raum für Interpretationen. So sagte sie: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, so geschult und so sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden.“
Präsentation von Gutachten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt im Januar
Wer Annette Kurschus am Montag bei ihrer Rücktrittserklärung zuhörte, hätte den Eindruck gewinnen können, mit ihrem Rücktritt reagiere sie nur auf eine sich zuspitzende öffentliche Diskussion. „Aus einem zunächst rein lokalen und regionalen Vorgang wurde ein Fall von bundesweiter Bedeutung gemacht“, sagte sie. „Inzwischen hat sich die Lage derart zugespitzt, dass es für mich nur eine Konsequenz gibt, um Schaden von meiner Kirche abzuwenden.“
„Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören“, sagte Kurschus. Doch werde sie „weiter einstehen“ für die „unbedingte“ Absicht der Kirche, „strukturell solches Unrecht zu verhindern“.
Im Januar nächsten Jahres wird ein großes unabhängiges Gutachten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt in der gesamten evangelischen Kirche und ihrer Diakonie präsentiert werden. Schaut man auf ähnliche Gutachten, die in den letzten Jahren in den katholischen Diözesen veröffentlicht wurden, dann steht fest, dass die Präsentation eine heftige Diskussion über den Umgang der Kirche mit diesem Thema auslösen wird. Da könnte die jetzt geführte Diskussion nur der Anfang sein.
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