Will: Für 99 Prozent aller Spiegel-Journalisten ist es schwer den Betrug zu erkennen – da er perfekt zu den eigenen Überzeugungen passt

Die Enttarnung des mehrfach preisgekrönten Nachwuchsjournalisten Claas Relotius als Urheber von Fake-News hat die deutsche Medienszene erschüttert. Nun stellt sich die Frage, ob es auch systemische Faktoren gibt, die solche Erscheinungen begünstigen.
Von 20. Dezember 2018

Einen Tag nach Bekanntwerden eines der möglicherweise größten Medienskandale der letzten Jahre beginnen Medienexperte in Deutschland mit der Ursachenforschung.

Der „Spiegel“ musste am Mittwoch einräumen, dass der mehrfach preisgekrönte 33-jährige Nachwuchsjournalist Claas Relotius, der unter anderem von CNN als „Journalist des Jahres“ ausgezeichnet worden war, Geschichten und Personen, die in diesen vorkamen, zum Teil frei erfunden hatte. Relotius hatte dies nach wochenlangen Recherchen eines Kollegen selbst zugegeben.

Die Tatsache, dass Relotius in einer Vielzahl an deutschen und nach eigenen Angaben auch internationalen Medien veröffentlicht hatte und von Fachjurys und erfahrenen Branchenkennern prestigeträchtige Auszeichnungen erhielt, macht den Skandal zu einem, der nicht nur den „Spiegel“ allein betrifft. Vielmehr, so hieß es in ersten Kommentaren von Journalisten und Bloggern, könnte dieser Auswirkungen auf die deutsche Medienlandschaft insgesamt haben und die Glaubwürdigkeit der Branche auf die Probe stellen.

Während in den sozialen Medien vielfach mit Spott und Häme gegen die deutsche Leitmedienlandschaft insgesamt reagiert wurde, lobten Journalistenkollegen die „Spiegel“-Redaktion dafür, dass diese eigenständig die Affäre aufgedeckt habe und transparent damit umgegangen sei. Aus ihrer Sicht handelt es sich vor allem um den Skandal der Einzelperson Claas Relotius selbst – dennoch kommt auch „Spiegel“-Co-Chefredakteur Ullrich Fichtner nicht um das Eingeständnis herum, dass die internen Kontrollmechanismen der Redaktion über Jahre hinweg nicht gegriffen haben.

Anfang des Monats noch Deutschen Reporterpreis abgeräumt

Angesichts der Tatsache, dass Relotius sogar Titelstorys beigesteuert hat, stellt sich daher möglicherweise doch die Frage, ob es nicht strukturelle Eigentümlichkeit innerhalb der deutschen Medienlandschaft insgesamt gibt, die einen Fall wie diesen ermöglichen oder zumindest begünstigen.

Immerhin hat Relotius erst vor kurzem den Deutschen Reporterpreis 2018 verliehen bekommen – für eine Reportage über einen syrischen Jungen, der glaubte, durch einen Kinderstreich den dortigen Bürgerkrieg erst ausgelöst zu haben. Die Fachjury lobte den Text für seine „beispiellose Leichtigkeit, Dichte und Relevanz“ und seine vermeintliche Quellenklarheit.

Heute weiß man: Es gab zwar zu Beginn des Syrienkrieges tatsächlich Berichte über Wandschmierereien von Jugendlichen, die anschließend gefoltert worden wären und damit Proteste ausgelöst hätten, aus denen in weiterer Folge ein bewaffneter Aufstand erwuchs. Relotius hat diese aber offenbar eher als Inspiration für ein Prosawerk in Form einer Reportage genutzt als selbst reale Personen zu realen Ereignissen zu befragen. Dies räumt auch Fichtner unumwunden ein.

Gabor Steingart, der selbst 20 Jahre lang beim „Spiegel“ tätig war, setzt sich in seinem Morning Briefing damit auseinander, dass der Nachwuchsjournalist sein Büro „in eine Fälscherwerkstatt umgewandelt“ habe und seine Kollegen jahrelang nichts bemerkt hätten.

Relotius spricht selbst über sein Berufsverständnis

Es stelle sich tatsächlich die Frage, so Steingart, nach den Hintermännern, die es bewusst oder fahrlässig ermöglicht hätten, dass der anfangs kleine Betrug in die Serienproduktion gehen konnte. Diese müssten sich unter anderem die Ressortleiter, die Rechtsabteilung und die „Spiegel“-Hausdokumentation gefallen lassen, die eigens dafür gegründet worden sei, den Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch ihres Gründers aufrechtzuerhalten.

Steingart dokumentiert auch eine Aussage von Claas Relotius aus dem Jahr 2015 selbst. In Hamburg erklärte dieser auf einer Veranstaltung unter anderem, er würde seine Texte schreiben, wie er selbst sie gerne lesen würde. Exakte Quellen- oder Ortsangaben hält er demnach für störend – wobei er auf die Geschichte seines Kollegen René Pfister verweist, dem 2011 der Henri-Nannen-Preis aberkannt wurde, weil, wie man später merkte, seine Schilderungen über die Ausgestaltung des Kellers von Horst Seehofer nicht auf persönlicher Inaugenscheinnahme beruhten.

Stattdessen vertraue Relotius darauf, „dass der Leser darauf vertraut, dass das vernünftig recherchiert ist“. Auch lasse er die Texte gerne noch ein paar Tage oder eine Woche liegen: „Dann fällt einem so unglaublich viel auf, was ganz anders sein muss und was man irgendwie weglassen kann.“

Immer wurde im „Spiegel“, so schildert Steingart, angesichts von Skandalen auch nach dem System dahinter, einer Kultur des Betrügens oder Ermöglichens gefragt. Es werde sich zeigen, ob das Blatt dazu auch in eigener Sache in der Lage sei.

Desk-Chef der Nordwest-Zeitung sieht linksliberale Monokultur als begünstigenden Faktor

Einen möglichen Hinweis, wo man bei der Suche nach einem solchen System ansetzen könnte, liefert der Desk-Chef der Nordwest-Zeitung, Alexander Will. Auf Facebook führt er den Erfolg, den Relotius mit seinen Fake-Geschichten haben konnte, unter anderem darauf zurück, dass dieser die Mechanismen dieses Systems durchschaut habe.

Mit Blick auf eine Reportage über die US-amerikanische Kleinstadt Fergus Falls, die vor unpräzisen und teilweise schlicht falschen Darstellungen nur so strotzte, erklärt Will:

Es verdichtet sich: Relotius kam damit durch, weil er die beim Spiegel herrschenden Narrative und politischen Vorurteile besonders geschickt (und infam) bediente. Wenn einem seine Überzeugungen so bedient werden, dann fragt man natürlich nicht mehr nach. Besonders interessant: Selbst die Lage der Stadt – Prairie statt Wald – hat die Dokumentation nicht entdeckt, obwohl das die leichteste Übung gewesen wäre. Es ist erschütternd.“

Es sei zwar nicht leicht, von Deutschland aus Ungereimtheiten über die Lage vor Ort zu verifizieren. Gewisse Stilmuster hätten jedoch auffallen müssen – etwa „dieses grässliche, über-verkitschte, immer wiederkehrende Musik-Thema“.

Vor allem aber sei die linksliberale Konsens-Filterblase in der Branche ein Problem:

Da wird halt das überlagernde Narrativ nicht hinterfragt. Bei ihm sind die ländlichen Südstaaten-Amerikaner waffensüchtige, fremdenfeindliche Hinterwäldler. Wahlweise auch christlich-fundamentalistische Deppen, die an der Todesstrafe hängen. In jedem Fall aber rückständige Dumpfbacken. Guantanamo-Insassen sind in jedem Fall Opfer, egal was. Im syrischen Bürgerkrieg wird vor allem gegen Kinder gekämpft. Die politischen Interessen sind kein Thema. Es ist für denjenigen, der diese Narrative teilt, und das sind wohl 99 Prozent aller Spiegel-Journalisten, unheimlich schwer, den Betrug zu erkennen, der ja zu den eigenen Überzeugungen perfekt passt.“

Deutschland Redaktionen hätten Zweifler nötig

Deutschlands Redaktionen hätten Zweifler nötig, diese seien aber nicht vorhanden. Will zeigt sich zudem skeptisch, ob der nunmehrige Skandal die erforderlichen Einsichten befördern werde. Der „Spiegel“ werde nicht Pluralismus herstellen, indem er sich von der als absolut gesetzten Wahrheit verabschiede und sich abweichenden Großerzählungen öffne. Gleiches gelte, wenn es darum gehe, dies personell sicherzustellen, indem „auch hier eine Öffnung für Haltungen und Sichtweisen jenseits des linksliberalen Mainstreams stattfindet“.

Der Haltungsjournalismus, zu dem sich namhafte Größen der Branche selbstbewusster denn je bekennen, ist nach Einschätzung Wills Teil des Problems und nicht der Lösung:

„Es gilt für die Branche insgesamt, sich von Restle-&-Co.-Anwandlungen zu befreien, wonach Journalismus nicht der Kampf um Richtig oder Falsch, die Erzählung von ‚was ist‘ darstellt, sondern nur dann wertvoll ist, wenn er eine bestimmte Haltung transportiert und das vermeintlich Gute unterstützt.“



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