„Wir leben in einer Planwirtschaft“: Ärzte protestieren vorm Bundesgesundheitsministerium

Mit Rasseln und Trillerpfeifen ging es im Rahmen eines bundesweiten Protesttages von niedergelassenen Ärzten gestern lautstark zum Bundesgesundheitsministerium. Dort legten die Ärzte aus Protest gegen die Gesundheitspolitik Karl Lauterbachs (SPD) ihre Kittel ab.
Titelbild
Niedergelassene Ärzte protestieren am 2. Oktober 2023 in Berlin gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung.Foto: Epoch Times
Von 3. Oktober 2023


Im Rahmen der bundesweiten Proteste niedergelassener Ärzte zogen gestern circa 100 freischaffende Ärzte durch Berlin zum Bundesgesundheitsministerium, um dort ihre weißen Kittel als Zeichen des Protestes niederzulegen.

Niedergelassene Ärzte werfen aus Protest ihre Kittel am 2. Oktober 2023 in Berlin vor das Bundesgesundheitsministerium. Foto: Epoch Times

Der Ärzteverband Virchowbund und weitere Berufsverbände riefen unter dem Motto „Praxis in Not“ dazu auf, aufgrund der Unzufriedenheit mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung Praxen am Brückentag geschlossen zu halten.

„Wir wollen uns endlich Gehör verschaffen, weil wir unzufrieden sind mit der Politik“, so Dr. med. Regine Lange-Herrmann (57), Gastroenterologin aus Wittenberg (Thüringen). „Unser Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach versucht im nächsten Jahr, 8,5 Milliarden Euro einzusparen. Das ist ein Drittel des Budgets, das wir haben für die stationäre und ambulante Versorgung. Das wird erhebliche Auswirkungen für die Bevölkerung haben und für unseren bisher sehr guten Standard in der Medizin.“

Über Lauterbachs Gesundheitspolitik: „Die Probleme sind komplex“

Für Dr. med. Regine Held (66), HNO-Ärztin im Ruhestand aus Berlin, gibt es nicht nur ein Problem im Bereich der niedergelassenen Ärzte.

„Die Probleme sind komplex. Es ist der Ärztemangel, der Mangel an medizinischen Fachangestellten und die nicht gut funktionierende Digitalisierung in den Praxen. Aber auch die Budgetierung treibt uns seit 30 Jahren um und die fehlende Anpassung der Gebührenordnung.“ Man habe das Gefühl, das ambulante Gesundheitswesen gehe den Bach runter.

„Wir haben echt das Gefühl, wir werden ausgehungert, ausgeblutet, kaputtgespart, weil der Bundesminister für Gesundheit, Herr Prof. Dr. Lauterbach, auf dem ambulanten Auge blind ist.“ Held ist stellvertretende Vorsitzende des Virchowbundes in der Landesgruppe Berlin-Brandenburg.

Für sie ist es ein langsames Sterben der Praxen. „Herr Lauterbach will ein staatliches Gesundheitswesen. Wir haben das Gefühl, dass wir deshalb keine Zuwendung bekommen, dass uns kein Respekt gezollt wird. Wir haben den Eindruck, dass er das Problem lösen will, indem er die Praxen nach und nach untergehen lässt und er die ambulante Medizin an die Krankenhäuser abgeben kann.“

„Keine Spitzenmedizin rund um die Uhr“

Aus ihrer Sicht bedarf es mehrerer Säulen der Reformierung, um aus der jetzigen Situation herauszukommen.

„Zunächst darf den Patienten in Deutschland nicht weiterhin suggeriert werden, dass sie 24 Stunden am Tag das ganze Jahr über immer zu Ärzten – auch in die Rettungsstellen – gehen und womöglich immer Spitzenmedizin verlangen können.“

„Zudem muss endlich nach 30 Jahren die Budgetierung unserer ärztlichen Leistungen wegfallen. Die Budgetierung wurde eingeführt, als es in Deutschland einen Ärzteüberschuss gab. Jetzt gibt es einen Ärztemangel. Ganz viele Praxen sind nicht besetzt, finden keine Nachfolger. Und da ist die Budgetierung ein schlechtes Therapeutikum.

Budgetierung bedeutet: Hausärzte bekommen Punkte pro Patient und pro Quartal. Daraus errechnet sich ein Euro-Betrag, den sie verdienen. Ist eine Obergrenze erreicht, wird der Euro-Betrag pro Patient gekürzt, bis schließlich der Arzt einen Patienten behandelt, ohne eine Gegenleistung zu bekommen. Oftmals reicht die Obergrenze nicht aus, weil viel mehr Patienten behandelt werden möchten.“

Und drittens müsste nach Ansicht von Held die Digitalisierung vernünftiger laufen. Sie müsse funktionieren, dürfe nicht so störanfällig sein und solle für Patienten und Ärzte hilfreich sein. „Und vor allen Dingen darf sie nicht so teuer sein“, so die ehemalige HNO-Ärztin.

Ärztin mit Leib und Seele kann nicht mehr Patienten aufnehmen

Dr. med. Ulrike Mehling (61), Allgemeinärztin in Berlin, erklärt, dass sie mit Leib und Seele Ärztin sei. „Ich bin niedergelassene Haus- und Allgemeinärztin. Ich musste nach 14 Jahren Niederlassung erstmals sagen, dass ich nicht mehr Patienten aufnehmen kann, weil wir komplett überlastet sind.“ Momentan betreut sie 1.200 Kassenpatienten.

Seit drei Jahren suche sie eine Arzthelferin. „Ich finde sie nicht.“ Man sei völlig überlastet. „Es machen immer mehr Praxen zu, die keinen Nachfolger finden.“ Sie möchte gerne ihren Angestellten mehr zahlen. „Aber es gibt zu wenig Personal und daher schaffe ich es nicht, mehr Patienten zu behandeln.“

„Wir sind ja Ärzte geworden, um Menschen zu helfen und zu unterstützen. Protest ist jetzt nicht unsere primäre Neigung.“ Nach dem Protest am 18. August dieses Jahres ist sie heute das zweite Mal in ihrem Leben als Ärztin auf der Straße.

Ihrer Meinung nach müsste der erste Schritt sein, mehr Medizinstudenten zu gewinnen, dadurch, dass man den Beruf attraktiver macht. Dabei denkt sie auch an die Arzthelferinnen. Auch sie müsse man besser honorieren, findet die Ausbilderin.

„Bei den Ärzten muss man eben auch sagen: Also was wollen wir? Wollen wir eine staatlich regulierte und organisierte Medizin? Oder wollen wir Ärzte, die sich selber engagieren und das [unternehmerische] Risiko auf sich nehmen?“

Allerdings sei die Gebührenordnung für Ärzte seit 1994 unverändert. „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.“ Gerade als Hausärzte müsse man unglaublich viel beraten. „Das wird überhaupt nicht honoriert.“ Es gebe eine Beratungsziffer, die 03230, die dürfe sie einmal im Quartal, aber nur bei jedem zweiten Patienten abrechnen. Ansonsten ist die Beratung mit 40 Euro pauschal abgeglichen.

„Wir leben in einer Planwirtschaft“

Dr. Waleed Zaki (HNO-Arzt) ist Beisitzender des Landesgruppenvorstandes des Virchowbundes Berlin-Brandenburg. Auch ihn stört die Budgetierung.

„Was mich besonders empört, ist, dass wir in einer Planwirtschaft leben. Es wird geplant, wie viel Patienten jeder Arzt in Quartal drei des nächsten Jahres sehen wird. Das ist jetzt gerade beschlossen worden mit den Honorarverhandlungen für das nächste Jahr. Es kommen aber in der Regel immer mehr. Für diese Patienten gibt es aber kein Geld.“

Für ihn stehen hinter der Entwicklung Hedgefonds und andere kapitalkräftige Investoren. Sie würden sich den Markt ganz anders anschauen und sagen: „Hey, hier sind drei, vier Arztpraxen, die lege ich zusammen. Dann stelle ich einen Weiterbildungsassistenten mit dem Förderprogramm Allgemeinmedizin ein.“

Aus diesen Praxen werde dann viel mehr Geld generiert als aus einer inhabergeführten Praxis. „Darauf läuft es hinaus.“ Man habe ganze Städte, die von einem einzigen Augenarztzentrum betreut würden, wo nur noch Ärzte aus einem Verbund ausgerichtet nach Profitmaximierung arbeiten würden.

Dann wären da noch die Krankenhäuser, die davon profitieren würden, so Zaki. „Viele Krankenhäuser sind überlastet. Wenn diese dann bestimmte Leistungen an ambulante Dienstleister abgeben, dann werden sie von den Kliniken desaströs schlecht bezahlt.“

Denn die Kliniken wüssten, dass ein eigenverantwortlich tätiger Arzt immer flexibler, kleiner, schlanker und schneller arbeite. „Die können aber so eine schnelle, flexible Konkurrenz nicht gebrauchen. Das würden sie nicht überstehen. Also kriegen sie mehr Geld für dieselbe Leistung als die Praxis.“

„Zum Beispiel bei der Notfallversorgung: Alle schreien über die vollen Notaufnahmen in den Krankenhäusern.“ 80 Prozent der Erste-Hilfe-Fälle würden allerdings in Arztpraxen behandelt. „Es gibt halt einfach Menschen, die wissen, dass sie mit Nasenbluten zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen können. Die rennen nicht in die Klinik.“

Es wird in Praxen häufiger Viertagewochen geben

Der Protest unter dem Motto „Praxis in Not“ richtet sich nach Angaben des Virchowbundes gegen die Politik und die Krankenkassen. Die Praxen würden durch Inflation, Energiepreissteigerungen und „seit Jahren unzureichende Finanzierungsabschlüsse mit den Krankenkassen“ ausgehungert, kritisieren die Ärzte unter anderem. Eine Reform der mehr als 30 Jahre alten Gebührenordnung werde bewusst verschleppt.

In der ARD warnte der Virchowbund-Vorsitzende Dirk Heinrich:Wenn sich nichts ändere, würden sich Patienten an „monatelange Wartelisten auf haus- und fachärztliche Termine“ gewöhnen müssen. Der Ärzteverband wirft Lauterbach auch vor, sich zu sehr für Krankenhäuser und zu wenig für die Probleme niedergelassener Ärzte zu interessieren.

Im Gespräch mit der Mediengruppe Bayern sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, voraus: „Wir werden erleben, dass immer mehr Ärzte die Leistungsmenge der Geldmenge anpassen.“ Derzeit würden rund zehn Prozent der Leistungen in Deutschland nicht vergütet. Er erwarte, dass es in Praxen auch häufiger Viertagewochen geben werde. Auf X schrieb die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Politik müsse „endlich aufwachen, um den Praxenkollaps zu verhindern“.

Den Videobeitrag zu dem Protest können Sie sich hier anschauen.

Mit Material von afp



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