Der Fall Özil: Ein Drama mit vielen Verlierern

Fußball hat viel mit Politik zu tun. Die Affäre um die Erdogan-Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan erregte die Gemüter in diesem Jahr in ähnlicher Dimension wie das sportliche WM-Scheitern. Die Debatte gab schmerzhafte Einblicke in deutsche Befindlichkeiten im Jahr 2018.
Titelbild
Foto mit Folgen: Mesut Özil (l) und Recep Tayyip Erdogan in London.Foto: Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa
Epoch Times25. Dezember 2018

Das Drama um Mesut Özil hätte auch William Shakespeare ausreichend Stoff für ein spannendes Schauspiel geboten.

Ein Skandal um ein Foto, Eitelkeiten und Enttäuschungen, viele Missverständnisse, ein gefallener Liebling der Massen, drei (ungekrönte) Regenten, ein ungeschickter Fußball-Präsident und der bis heute ungeklärte Einfluss einer schönen Frau – das ist der Rahmen für ein oft unwürdiges Spektakel, das an einem Abend im Mai in einem Hotel in London seinen Anfang fand und an dessen Ende es für den deutschen Fußball nur Verlierer gibt.

Ein Rückblick in elf Akten auf den großen Aufreger des sportlich enttäuschenden WM-Jahres:

DER AFFRONT: Im Londoner Hotel Four Seasons veranstaltet die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Charity-Dinner. Geladen sind auch die Fußball-Profis Mesut Özil und Ilkay Gündogan. Die Jungs aus dem Ruhrpott mit türkischen Wurzeln lassen sich mit dem umstrittenen Politiker ablichten, überreichen Trikots. Gündogan schreibt auf seines „für meinen verehrten Präsidenten, hochachtungsvoll“. Die Erdogan-Partei verbreitet diese mitten im türkischen Wahlkampf per Twitter – zwei deutsche Fußball-Nationalspieler an der Seite des in Deutschland als Feind der Demokratie geächteten Erdogan sind ein PR-Coup.

DIE REAKTION: DFB-Präsident Reinhard Grindel reagiert schnell und klar in der Sache: Man respektiere die besondere Situation der Spieler mit Migrationshintergrund. „Aber der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden“. Özil und Gündogan hätten sich für den Wahlkampf Erdogans „missbrauchen lassen“. Oliver Bierhoff kündigt eine Aussprache an. „Die Beiden waren sich der Symbolik und Bedeutung dieses Fotos nicht bewusst, aber natürlich heißen wir die Aktion nicht gut und besprechen das mit den Spielern“, sagte der DFB-Teammanager.

Einhellig ist das Urteil aus der Politik. Von rechts außen kommt schnell die Forderung, das Duo aus der Nationalmannschaft zu werfen. Diese Notwendigkeit sieht Grindel nicht. Sein Statement überrascht aber insofern, als dass er selbst keine Probleme hat, mit chinesischen Politikern Kooperationsverträge zu schließen. Womöglich ist die Erdogan-Kritik aber auch ein eigenes Wahlkampfmanöver gegen die Türkei, den Konkurrenten der DFB-Bewerbung um die EM 2024.

DIE NOMINIERUNG: Nur einen Tag nach dem ersten großen Wirbel nominiert Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader. Der DFB lenkt im Fußballmuseum in Dortmund mit einem Coup vom Thema ab. Der Bundestrainer und sein Team bekommen neue Verträge bis 2022. Doch „Özil&Gündogan“ bleibt auf der Agenda. Löw spricht von einer unglücklichen Aktion, macht aber deutlich, beide fahren zur WM: „Selbstverständlich nicht. Daran habe ich nicht gedacht. Zu keiner Sekunde!“, sagt er über eine mögliche Ausbootung des Duos. Erdogan wird am gleichen Tag in London von der Queen empfangen.

BEI STEINMEIER: Das Interesse am Thema ebbt ab. Fußball-Deutschland freut sich auf das Pokalfinale zwischen dem FC Bayern und Eintracht Frankfurt. Kurz vor dem Anpfiff kommt die Nachricht: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat beide Spieler empfangen – auf Wunsch Gündogans, wie sich später herausstellt. Fotos werden publiziert, wie alle drei über den Hof im Schloss Bellevue spazieren. „Heimat gibt es auch im Plural“, macht Steinmeier seine Überzeugung deutlich, die in den kommenden Wochen kaum noch eine Rolle spielen wird. Özil sagt in einem schriftlichen Statement: „Ich bin hier aufgewachsen und stehe zu meinem Land.“ Viel mehr wird er für die kommenden zwei Monate öffentlich nicht äußern. Das Thema ist wieder in den Schlagzeilen.

IN SÜDTIROL: Das Nationalteam bricht zum Trainingslager nach Südtirol auf. Und hat das Thema als Problem im Gepäck. Özil und Gündogan spalten das Land, es gibt Unterstützung, aber auch massive bis unsachliche Kritik. Ein SPD-Politiker aus Hessen beleidigt sie gar als „Ziegenficker“. Die AfD nutzt jede Gelegenheit, um zu polarisieren. In Eppan stellt Löw klar, dass das Thema in der Mannschaft „kein Problem“ sei. Beim Test in Österreich (1:2) erzielt Özil das deutsche Tor, wird aber wie Gündogan von einigen Fans ausgebuht. Bierhoff fordert, man dürfe die Beiden nicht „auf ewig verdammen“. Kanzlerin Angela Merkel spricht bei ihrem Besuch in Eppan angeblich mit dem Duo „unter sechs Augen“.

Beim traditionellen Medientag sprechen alle Spieler, auch Gündogan, aber nicht Özil. Der wird beim Training auf dem Rad fotografiert. Gündogan äußert sich differenziert, nimmt Kritik an, erläutert die Beweggründe für die Fotos und wehrt sich gegen Anfeindungen.

IN LEVERKUSEN: Bei der WM-Generalprobe gegen Saudi-Arabien (2:1) spielt Özil nicht. Gündogan wird eingewechselt und ausgepfiffen. Löw ist darüber erbost. „Dass ein Nationalspieler so ausgepfiffen wird, hilft niemandem.“ Schon vor dem Spiel macht Bierhoff einen Fehler und bezichtigt im ARD-Interview die Medien, das Thema immer wieder aufzubauschen. Die Basta-Rhetorik ist ein Zeichen von Schwäche.

IN WATUTINKI: Das historische sportliche Scheitern in der WM-Gruppenphase gegen Mexiko (0:1), Schweden (2:1) und Südkorea (0:2) hat primär nichts mit Özil und Gündogan zu tun. Die Mannschaft spielt in Russland kollektiv schlecht. Özil hat sogar mit die besten statistischen Werte im schwachen deutschen Team – und wird doch von vielen zum WM-Buhmann gestempelt. Wieder setzt es vom rechten Rand dumpfe Verunglimpfung. Aus der Mannschaft wird mittlerweile eingeräumt, dass die Thematik „ein bisschen gestört“ habe, wie Kapitän Manuel Neuer meint. Özil schweigt weiter beharrlich zu allen Vorwürfen. Gündogan ist seit seinen Äußerungen in Südtirol aus der Schusslinie.

DIE BREITSEITEN: Das WM-Desaster ist eine Woche her und Löw längst im Urlaub, da verzettelt sich Bierhoff mit missverständlichen Aussagen zur Rolle Özils. Man hätte überlegen sollen, aus sportlichen Gründen auf ihn zu verzichten, sagt er in einem Interview, rudert dann wieder zurück. Es bleibt aber der Eindruck: Özil wird zum WM-Buhmann abgestempelt. Wer nun ein präsidiales, moderierendes Wort von Grindel erwartet, wird enttäuscht. Der DFB-Boss gießt verbal Öl ins Feuer und gibt ebenfalls in einem Interview die Forderung aus: Özil müsse sich nun endlich erklären. Statt den Spieler gegen die laufende Hetze im Netz zu schützen, wird er zum Sündenbock gemacht.

DER RÜCKTRITT: Eine Woche nach dem WM-Finale kommt das von Grindel geforderte Özil-Statement, aber es sieht ganz anders aus, als dieser es erwartet hat. Beim DFB dachte man, Özil würde sich für die Fortsetzung im Deutschland-Trikot entscheiden, quasi klein beigeben. Im Gegenteil: In einer dreiteiligen Social-Media-Offensive rechnet Özil ab. Er erklärt, warum er die Fotos immer wieder machen würde und attackiert schließlich neben Sponsoren und Boulevardmedien den DFB und vor allem Grindel.

„Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, so lange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre“, endet das Statement und damit Özils DFB-Karriere nach 92 Länderspielen und dem WM-Titel 2014 als Krönung.

DIE REAKTIONEN: Der Rassismus-Vorwurf wiegt schwer. Schnell weist der DFB alle Anschuldigungen zurück. Doch Grindel gerät wie Bierhoff unter Druck. Das miserable Krisenmanagement fällt ihnen auf die Füße. Das Thema beschäftigt Deutschland im Sommerloch. Längst ist es ein Politikum, das alle Parteien für ihre Interessen instrumentalisieren. Özil steht stellvertretend für hunderttausende Deutsche türkischer Herkunft und deren angebliche Integrationsprobleme.

In der öffentlichen Wahrnehmung kommt Özil weiter schlecht weg. Die Erklärung sei ihm vom Berater diktiert worden, er dazu intellektuell gar nicht in der Lage. Oder: Die Familie seiner hübschen Freundin habe private Kontakte zu Erdogan, sie sei der Grund für den ganzen Schlamassel.

Schnell kommt es zudem zu einer großen Fehlinterpretation. Obwohl Özil nicht von Rassismus in der Nationalmannschaft selbst geschrieben hat, verteidigen sich Akteure aus dem elitären DFB-Kreis. Geäußerte Worte und gefühlte Wahrheiten verschwimmen. Haften bleibt der große Zorn Özils, vom DFB in schweren Stunden allein gelassen worden zu sein und beim DFB die Enttäuschung, dass der vermeintliche Prototyp der gelungenen Integration einem plötzlich so fremd vorkommt.

DIE ENTTÄUSCHUNG: Löw schweigt auch. Sogar noch länger als Özil. Bei der mit viel Brimborium angekündigten, aber mit wenig Inhalt gefüllten WM-Analyse Ende August spricht dann auch der Bundestrainer und erzählt von der Enttäuschung, dass jeder Kontaktversuch zu seinem einstigen Lieblingsschüler nach dessen Rücktritt vergeblich war. „Ich habe mehrfach versucht, ihn zu erreichen, per SMS oder per Telefon. Es ist mir nicht gelungen, ihn ans Telefon zu bekommen.“ Das Thema sei „nervenaufreibend“ gewesen, erzählt Löw, aber nicht die Ursache für den WM-K.o. gewesen.

Einen Monat später versucht Löw nochmals, Özil zu sprechen. Beim Besuch der Arsenal-Akademie in London bekommt er seinen Ex-Spieler aber wieder nicht zu Gesicht. „Wir hätten uns gerne mit Mesut unterhalten. Aber wir müssen akzeptieren, dass er momentan das Gespräch mit uns nicht haben will“, sagt Bierhoff.

Grindel hat mittlerweile sein Fehlverhalten eingesehen. Kurz vor dem EM-Zuschlag für Deutschland im Zweikampf mit der Türkei sagt er: „Ich hätte mich angesichts der rassistischen Angriffe an der einen oder anderen Stelle deutlicher positionieren und vor Mesut Özil stellen müssen. Da hätte ich klare Worte finden sollen.“ (dpa)

Amtlich: Özil und seine Teamkollegen sind bei der WM in Russland nach der Vorrunde ausgeschieden. Foto: Andreas Gebert

Letzter Abgang im DFB-Trikot: Özil verlässt nach der WM-Niederlage gegen Südkorea den Platz. Foto: Ina Fassbender



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