Kriminalscanner auf Handys: EU-Abgeordnete warnen vor kommunistischen Verhältnissen

Die Europäische Union plant den großen Überwachungsangriff. Beobachter befürchten den Weg in den Überwachungsstaat. Ein von der EU angekündigter Gesetzentwurf zur verdachtslosen Nachrichten- und Chatkontrolle bedroht nach Ansicht von mehreren EU-Politikern die sichere Verschlüsselung und die IT-Sicherheit.
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Die EU möchte den verpflichtenden automatisierten Zugriff auf alles: Chats, E-Mails, Videokonferenzen, Messengerdienste.Foto: iStock
Von 17. November 2021

Die Europäische Union plant den großen Überwachungsangriff. Beobachter befürchten den Weg in den Überwachungsstaat. Ein von der EU angekündigter Gesetzentwurf zur verdachtslosen Nachrichten- und Chatkontrolle bedroht nach Ansicht von mehreren EU-Politikern die sichere Verschlüsselung und die IT-Sicherheit.

Ausgerechnet zum ersten Welttag der Verschlüsselung, dem Encryption Day, haben 20 Abgeordnete des Europäischen Parlaments am 21. Oktober einen parteiübergreifenden Brandbrief an die EU-Kommission geschickt. Sie sehen in dem Gesetzesentwurf, der ursprünglich am 1. Dezember vorgelegt werden sollte, einen Eingriff in die Privatsphäre.

Automatische Durchsuchung, wahllos und generell

Der Stein des Anstoßes: Die EU möchte Chatverläufe und Fotos auf sämtlichen Smartphones automatisch durchsuchen. Zunächst geht es um die Verhinderung von Kindesmissbrauch, als Ziel wird aber auch die Terrorbekämpfung genannt.

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„Wir sind sehr besorgt, dass private Kommunikation einer Massenüberwachung unterworfen werden könnte und Hintertüren zu Ende-zu-Ende-verschlüsselten Kommunikationsdiensten zwingend vorgeschrieben werden könnten“, schreiben die Volksvertreter.

Eine wahllose und generelle Kontrolle der Online-Aktivitäten aller Menschen „für den Fall der Fälle“ verursache verheerende Kollateralschäden. Sie missachte den Kern des Grundrechts auf vertrauliche Kommunikation und sei daher weder notwendig noch verhältnismäßig.

Bei einer solch weitgehenden Maßnahme handele es sich um eine Methode, die bisher nur in autoritären Staaten wie China angewandt werde und „einen Präzedenzfall für die Ausweitung auf andere Zwecke auch in Europa darstellt“, schreiben die Parlamentarier.

„Gefährliche Präzedenzfälle“

Einen ähnlichen Ansatz verfolgten die umstrittenen Pläne von Apple im August, alle Fotos von iPhone-Nutzern zu scannen, die auf Kindesmissbrauch hindeuten könnten und mit einer Datenbank abgleichen. Dies sollte laut Apple anonymisiert und lokal geschehen. Der Smartphone-Multi trat damit einen Sturm der Entrüstung los.

Whistleblower Edward Snowden zeigte sich bestürzt und schrieb auf Twitter: „Auch wenn es noch so gut gemeint ist, Apple führt damit Massenüberwachung auf der ganzen Welt ein. (…) Wenn sie heute nach Kinderpornos scannen können, können sie morgen nach allem suchen.“

Forscher des Massachusetts Institute of Technology argwöhnten, dass Apple damit eine Überwachungssoftware industriellen Ausmaßes auf den Geräten aller Nutzer installieren würde. Der Tech-Gigant aus Cupertino zog sein Vorhaben daraufhin zurück.

Ähnlich wie Apple im Sommer verweist die EU-Kommission heute darauf, Kinder zu schützen, indem sie von WhatsApp, Signal & Co. verlangt, die Kommunikationsinhalte ihrer Bürger abzufangen, zu überwachen und zu scannen – selbst dann, wenn diese mit der als sicher geltenden Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ausgestattet sind.

Daniel Kretzschmar, Sprecher des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, hegt gegenüber dem Nachrichtenportal Watson erhebliche Zweifel an dieser Auffassung: „Welches Material verdächtig in Sachen Kindesmissbrauch ist, sollten Polizei und Staatsanwaltschaft entscheiden – und nicht die Firmen, die Messenger-Dienste betreiben.“

„Stärkt die Verschlüsselung“ lautet auch die Devise beim WhatsApp-Mutterkonzern Facebook, bei Apple sowie 151 weiteren Organisationen, Firmen und NGOs. Die Tech-Granden und ihre Mitstreiter hatten – ebenfalls anlässlich des Global Encryption Days – eine Forderung für mehr Verschlüsselung durch Regierungen und den privaten Sektor unterzeichnet.

EU will permanenten Zugriff auf Mail-, Messenger- und Videokonferenzdienste

Das gemeinsame Statement bezeichnet starke Verschlüsselungen als „kritische Technologien, die dabei helfen, das Vertrauen in Online-Dienste zu stützen und die Daten abzusichern.“ Einige Regierungen und Unternehmen würden darauf drängen, etablierte Verschlüsselungsmechanismen aufzuweichen und zu schwächen. Diese „gefährlichen Präzedenzfälle“ in einzelnen Staaten beeinträchtigten „die Sicherheit von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt“.

Die EU-Kommission lässt sich weder von derlei Vorstößen noch von der Meinung ihrer Bürger beeindrucken. Im Gegenteil: Der Gesetzentwurf der Innenkommissarin Ylva Johansson soll die Überwachung von E-Mail-, Messenger- und selbst Videokonferenzdiensten verpflichtend machen.

„Die Sicherheit von Personen hängt von einer sicheren Verschlüsselung ab, die ihre vertrauliche Kommunikation schützt“, betonen hingegen die 20 Abgeordneten in ihrem Appell an die zuständigen EU-Kommissare Margrethe Vestager, Margaritis Schinas, Věra Jourová, Thierry Breton, Didier Reynders und Ylva Johansson.

Sie befürchten massive Eingriffe in das Recht aller Bürger auf eine geschützte Privatsphäre. Die massenhafte Überwachung privater Korrespondenz würde zu „weit verbreiteter Unsicherheit, Misstrauen und Unruhe unter Bürgern und Unternehmen führen, bevor sie höchstwahrscheinlich vom EuGH im Lichte seiner Rechtsprechung für ungültig erklärt wird.“

Massive Auswirkungen auf Grundrechte und Wirtschaft

Die Parlamentarier Svenja Hahn und Moritz Körner von der FDP, Petra Kammerevert (SPD) und Cornelia Ernst (Linke) zitieren eine ‚Kurzinformation des Deutschen Bundestages‘ vom 6. Oktober. Darin heißt es: „Die latente Dauergefahr der Begehung von (auch schwerwiegenden) Straftaten dürfte daher zur Rechtfertigung einer ständigen und umfassenden automatisierten Analyse wohl nicht genügen.“ Zu den Unterzeichnern gehört auch der deutsche Abgeordnete für die Piratenpartei, Patrick Breyer, der den Plan der Europäischen Kommission als „Chatkontrolle“ bezeichnet.

Das Vorhaben, so die Abgeordneten, hätte schwerwiegende Auswirkungen auf die Grundrechte, die digitale Technologie und Infrastruktur sowie die Wirtschaft. In einem im März veröffentlichten Gutachten hatte bereits eine ehemalige EuGH-Richterin aufgezeigt, dass die anlasslose Durchleuchtung privater Nachrichten gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes verstößt.

Die Abgeordneten zitieren zudem die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung der EU-Kommission, wonach 80 Prozent der Bürger eine flächendeckende Überwachung verschlüsselter Nachrichten ablehnen.

Der falsche Weg zum Schutz von Kindern

Facebook, Google, Microsoft und andere Anbieter von Messenger-Diensten können die privaten Nachrichten ihrer Nutzer in der EU bereits freiwillig rechtmäßig nach sexuellen Missbrauchsdarstellungen von Kindern scannen.

Das EU-Parlament hatte dazu im Juli per Eilverordnung Ausnahmen von der Anwendung einiger Bestimmungen der „E-Privacy-Richtlinie zum Datenschutz der elektronischen Kommunikation eingeführt.“

Nun arbeitet die EU-Kommission an einem Folgegesetz, um die Chatkontrolle für alle Dienstleister verpflichtend zu machen. Die Auflagen dürften dann auch für Messenger-Dienste wie WhatsApp, Signal und Threema gelten, die bislang noch durchgehend verschlüsselt sind.

„Die verdachtslose Durchleuchtung und Kontrolle sämtlicher Privatnachrichten der gesamten Bevölkerung mit fehleranfälliger Technik ist eines digitalen Überwachungsstaats wie China würdig, aber nicht eines Rechtsstaats“, wettert der Europaabgeordnete und ‚digitale Freiheitskämpfer‘, Patrick Breyer. Eine „wahllose Suche ins Blaue hinein“ sei der falsche Weg zum Schutz von Kindern und gefährde diese sogar, indem ihre privaten Aufnahmen in die falschen Hände geraten und Kinder vielfach kriminalisiert würden.

Der Piratenpartei-Politiker geht noch weiter: „Mit ihren Plänen zum Brechen sicherer Verschlüsselung setzt die EU-Kommission aus kurzfristigen Überwachungswünschen heraus sogar die allgemeine Sicherheit unserer privaten Kommunikation und öffentlicher Netze, Geschäftsgeheimnisse und Staatsgeheimnisse aufs Spiel. Ausländischen Geheimdiensten und Hackern Tür und Tor zu öffnen, ist völlig unverantwortlich.“

Auch juristisch steht der Gesetzentwurf auf tönernen Füßen. Die anlasslose und verdachtsunabhängige Überwachung ist in der EU generell verboten, weil sie die Grundrechte verletzt. Der Europäische Gerichtshof hat diese Sicht wiederholt bestätigt.

Im Oktober vergangenen Jahres etwa stellte der EuGH fest, dass eine allgemeine und unterschiedslose Speicherungs- oder Weiterleitungspflicht von Verkehrs- und Standortdaten mit dem Recht der Europäischen Union unvereinbar sei und begründet dies mit den Artikeln 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens), 8 (Schutz personenbezogener Daten) und 11 (Meinungsfreiheit) der Grundrechtecharta.

Nationale Parlamente ohne Einfluss

Auch EU-Parlamentarier Breyer sieht rechtliche Grenzen: „Der Europäische Gerichtshof lässt eine permanente automatisierte Auswertung privater Kommunikation nur zu, wenn sie auf Verdächtige beschränkt ist (Rechtssache C-511/18). Wir dürfen nicht zulassen, dass die EU höchstrichterliche Urteile mit Füßen tritt.“

Der Vorstoß dürfte aber auch bei den Bürgern selbst mehrheitlich auf Ablehnung stoßen. Bereits im Frühjahr zeigte eine öffentliche Konsultation der Kommission zur Online- und Offline-Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, dass die Mehrheit der EU-Einwohner eine Verpflichtung zum Einsatz der verdachtslosen Nachrichten- und Chatkontrolle ablehnt. Mehr als 80 Prozent sprachen sich gegen eine Anwendung auf Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikation aus.

Die verschärfte Chatkontrolle soll durch ein Gesetz implementiert werden, das in Deutschland und den anderen 26 EU-Mitgliedstaaten nach der Verabschiedung durch das Europäische Parlament und den Ministerrat in Kraft tritt.

Die nationalen Parlamente wie der Bundestag haben danach keinen direkten Einfluss mehr darauf. Dies dürfte Beobachtern zufolge wohl noch einige Wochen dauern. Ursprünglich wollte die EU-Kommission ihren Entwurf Anfang Dezember vorlegen. Zwischenzeitlich hat sie die Vorlage vertagt. Ein neues Datum nannte sie nicht.



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